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GERMANISCH- ROMANISCHE MONATSSCHRIFT

IN VERBINDUNG MIT

Dr. F.HOLTHAUSEN, Dr. V.MICHELS, einer. 0. ö. Professor der englischen Philologie 0. d. Professor - deutschen Philologie an der Universität Kiel an der Uhivpräitigt eg . Ze Dr. W. MEYER-LÜBKE, Dr. W. STREITBERG dh” 0.6. Professor der romanischen Philologie 0. ö. Professor dgr jnd oberm. Kane a an der Universität Bonn an der Univerauz Leipzig / « oo

HERAUSGEGEBEN VON

DR. H. SCHRÖDER uno PRror. DR. F. R. SCHRÖDER

XV. JAHRGANG

1927

HEIDELBERG 1927 CARL WINTERS UNIVERSITÄTSBUCHHANDLUNG

Verlags-Nr. 2041.

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ALLERECHTE, besonders das Recht der Übersetzung in fremde Sprachen, werden vorbehalten.

Inhalts-Verzeichnis.

Leitaufsätze.

Burk, Hans, Dr., Berlin: Nibelungenlied, Klage und Waltharius £4 Brinkmann, Hennig, Dr., Privatdozent für deutsche Philologie an der Universität Jena: Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung 1. Cohen, Sophie, Frankfurt a. M.: Diesseits und Jenseits vom Stile Ehrismann, Gustav, Dr., emer. ord. Professor der deutse hei Blüitologie an

Seite 345

183 248

der Universität Greifswald (Heidelberg): Die Kürepherg- Kiteratkr.und“ .. .

die Anfänge des deutschen Minnesangs . . 2 2 Lereioren, kEttmayer, Karl, Dr., 0.6. Professor an der Universität A are EN ENTE Hugo Schuchardt ur

Forchhaınmer, Jörgen, Lehrer der 'Stimm- und Sprichpeyeholagie und Phonetik an der Universität und Staatlichen Akademie der Tonkunst., München: Das Ergebnis der Kopenhagener Konferenz zur Lösung der phonetischen Transskriptionsfrage im Lichte der neuen Phonetik

von Jan, Eduard, Dr., Privatdozent für romanische und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Würzburg: Französische Literaturgeschichte und vergleichende Literaturbetrachtung i

Jancke, Rudolf, Aachen: Grabbe und Büchner. Eine psyehologisch- lite- rarische Betrachtung mit besonderer IE LE SDR des „Napoleon“ und „Dantons Tod‘ en

Hämel,A., Dr., a.o. Professor der rom. Philologie an der Ü Iniv versität Würz- burg: Lateinise he und französische Literatur im Mittelalter

-—- Roland-Probleme .

Klemperer, Viktor, Dr., ord. Professor der roman. Philologie : an der Ter h- nischen Hochschule ı in Dresden: „Vietorieusement fur...“ (Zur Bewer- tung Mallarmes) ee he N Ende der Bi if A En SE ee ee

Koch, John, Dr., Prof., Berlin-Zehlendorf: Sir Walter Scotts Beziehungen zu Deutschland. I. (Nach einem in der Gesellschaft für deutsche Philo- logie zu Berlin gehaltenen Vortrag) s

- Sir Walter Scotts Beziehungen zu Deutse hland. 1. a »&

bar hınann, Fritz R., Dr., Berlin: Goethes Mignon. Entstehung, Sad Gestaltung in Ei 2 ee Meet

Mayr, Otto, Dr., Innsbruck: Von der diehterischen Technik in Poliziang „Stanze per la griostra‘ Bu ee ee Tr en ee a ie

Mentz-Fleißner, Else, Dr., z. 4. Aurora-on-Gaynga (N. Y.): Zur Phantasie Gottfried Kellers

Naumann, Hans, Dr., ord. Professor der Geimane hei Philologie an der Universität Frankfurt a.M. (Der Gießener Tafelrunde zugeeignet): Die Zeugnisse der antiken und frühmittelalterlichen Autoren zur Be schen Poesie ;

Neubert, Fritz, Dr., orde nl. Profis, 'SSOr r.der roman. „Philologie an der Ü 'niver- sität Breslau: „Textkritik" im 18. Jahrhundert. J. B. Mirabeauds ‚Le Monde“ (1751). Garl Appel zum 70. Geburtstag (17. 5. 1927) gewidmet

Oehlke, W., Dr., Prof., Berlin: Westöstliche Literaturbrücken. ;

Schaeffer, Albrecht: Die Technik der „Darstellung“ in der Erzählung

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|

385

286

258

215 317 1:

IV Inhalts-Verzeiehmis.

Seite Sparnay, H., Dr., Privatdozent der germanischen Philologie an der Uni- versität Utrecht: Die Mabinogionlrage. Vortrag, zehalten am 23. April 1927, bei der Tagung des „Twaallte Nederlandsche Philologenkongreß"

I Utneehilr & u 2 Le ne ee Mens. EA de Vries, Jan, Dr.. ordentl. Professor der germanischen Sprachen an der

Universität Leyden (Holland): Die Wiekingersaga . . . s1 Walzel, Oskar, 0.0. Professor für neuere deutsche Sprache Mn l. ite ei

an der Universität Bonn: Von „Minna” zur „Kmilia” 22 2 2020... 18

--- .— (roethes und Ierders Weimarer Anfänge . . ner Sr

Weidemann, Carla, Kiel: Biblische Stilelemente bei aule Da 202 Weißgerber, Leo, Dr., a.0. Prof. für vergleichende Sprachwissense haft an der Universität Rostock: Die Bedentungsle hre - - ein Irrweg der

Sprachwissenschaft? 2 2 2 2 2 nn nee Pl Winkler, Emil, Dr., ord. Prof. der romanischen Philologie an der Univer- sttät Innsbruck r Sprachmusik und Stilistik. Vortrag, gehalten am

rn: Mai Boy2t Bei der Tagung des Allgemeinen Deutschen Philologen- "z=.verbandes In Düsseklorf a En a WE a re er een Sl Sr sl 7 | Eee nu Kleine Beiträge.

RSTd. Luise, Marburg a. d. Lahn: Eine mißverstandene Kekhartstelle 232 Buchner, Max, Muschen- Auf den Spuren des geschichtlichen Faust . . 61 Holthausen, F., Kiel: Zur altfriesischen Wortkunde . 2 2 2 2 20202..235 —- Die Runeninsehrift auf dem Thorsberger Schildbuekel . ...202020..237 - - Westöstliches . 2... a he Bo able Bir anne ie. ne Ser Ein altenglisches Rätsel 153 -— ++ Phonetische Gewohnheiten de a a ee ee Aa Johannsen, Holger, Jonstrup, pr. Rallerup (Dänemark): I ne faut pas

GUESTNAINEOIESE 2 ee A ee de wie 8 Kalepky, Theodor, Berlin-Schlachtensee: Die Einheit in Goethes Faust-

Rapodie, a Ye ee ea De ae 08 Körner, Jos., Prag: Zu Il. v. Kleists Winzburger Reise 2 20202 0202020.2234 —- -— Ein Schreibfehler in Iebbels „Heiodes und Martamne” 2 22020202234 -- Friedrich Hebbel oder August Wilhelin Sehlegel? . 2 2. .2.2.2.2.2....303 ——- Zu DH. v. Kleists „Zerbrochenem Krug" 2.2022 2 2 nn. Krappe, Alexander Haggarthyv, Minneapolis, Minn.: Kine mittelalterlich-

indische Parallele zum .Beowull" 2 2 00 non on Leppla, Rupprecht, Mainz: Das Motiv zu C. F. sh Gedicht: „Nach

einem Niederlander“ 2 22 220... E Loftman. Emil, Boras: „Alser das hörte, war er oe hie EN: 66 Moser, Virgtl, Tölz: Preßbengel 2 2 2 2 2 on nn nee BU Spitzer, Leo, Marburg a. d. Lahn: Frz. il ne faut pas que tu menres „Du

darfst nieht sterben“ . . Be re 59 Als er das hörte, war er übe PTASse nt Bin S. 66) ne j 152 Strauß, 1.udw., Düsseldorf: Aus Briefen von Hölderlin von seiner Se in Sr 147 /wel Briefe aus Hölderlins Homburger Kreis . . . in re ee a ER | Thalmann, Marianne, Wien: Thomas Mann, Tod in Vene die en | Ullrich. Hermann, Gotha: Zu Platens Familiengeschichte 2 2 2202020.2.8378 Vorwahl, H., Harburg (Flbe): Balzae und die Antike 2. 2 2202020202... 14 Berichbeunn 3.2 2-28 Su ea mi na bee E60 Besprechung i 77 | Bucherschau: = £, 5 SB. ws ee EB Selbstanzeigen . . En a ie a er a Me he ee ar. Me 0050 Neuerscheinungen . 2 2 2 2 nn nn nenn. 79.157.238. 303. 460 Mitarbeiter-Verzeichnis . 220 oo on nn. Ab

NWamen- und Sachverzeichuis oo... Abb

- j MAR 18 1827

MANISCH- ROMANISCHE MONATSSCHRIFT

IN VERBINDUNG MIT

| Dr. F.HOLTHAUSEN, Dr. V. MICHELS, emer. 0.6. Professor der englischen Philologie 0. 6, Professor der dautschen Philologie | an der Universität Kiel an der YJnjyersität Jena ' Dr. W. MEYER-LÜBKE, Dr. W STREITBERG 4, 0.6, Professor der romanischen Philologie 0, 6. Professor, der inaogerm, Sprachmissensehtt an der Universität Bonn an Ger hi versitäf. ERBE,

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) HERAUSGEGEBEN VON

DR. H. SCHRÖDER uno Pror. DR. F. R. SCHRÖDER Kiel, Waitzstraße 39 Würzburg, Heidingsfelderstr. 22 . XV. Jahrgang Heft ı/2 amfBebr. 1927 L anRAR »,> Inhalt: \ | 0 | ALIFORNLT Seite - Winkler, Emil, Innsbruck: Sprachmusik und Stilistik . . . EEE - Schäeffer, Albrecht: Die Technik der Darstellung in der Erzählung. I ana 2 a Walzel, Oskar, Bonn: Von „Minna‘ zur Emilia" ... ER - Koch, John, Berlin-Zehlendorf: Sir Walter Scötts Bailäbunger's zu Deutschland. . RR: " Hämel, A., Würzburg: Lateinische und französische Literatur im Mittelalter .. . . ....46 Kleine Beiträge Krappe: Eine mittelalterlich-indische Parallele zum Beowulf . . . . 222.222. 2.2.54 Kalepky: Die „Einheit‘‘ in Goethes Fausttragödie . . . . 2 2 2 2 nn 2 nn nn 5 Buchner: Auf den Spuren des geschichtlichen Faust, . . *, . . Be Läftman: Als er das hörte, war er überrascht . . . Do Spitzer: Frz. il ne faut pas que tu meures ‚du darfst nicht sterben‘ EL ei ie Besprechung Sabetanzeigen ES RE ET a hd Te ra Ve ET ET ee ee SR ar EEE ae MR PER ne VERF Va. RR ee,

Preis für den Jahrgang M.9.—. Einzelpreis des Doppelhefts M. 2.—.,

HEIDELBERG 1927

Carl Winters Universitätsbuchhandlung

Diesem Heft liegt ein Prospekt von Fritz Klopp, Verlag, Bonn a. Rh., über Theutonista, Zeitschrift für deutsche Dialektiorschung und Sprachgreschivhte"bei.

Die Germanisch-Romanische Monatsschrift erscheint in Doppelheften von je 4—5 Druckbogen Umfang.

In Angelegenheiten der Schriftleitung wird gebeten, sich an Herrn Dr. Heinrich Schröder in Kiel, Waitzstraße 39, oder an Herrn Professor Dr. F.R. Schröder ın Würzburg, Heidingsfelderstr. 22, zu wenden. Der Umfang der Beiträge soll in einem Heft ı2 Seiten nicht überschreiten. Das Honorar beträgt 32 Mark für den Druckbogen.

Von den ‚„Leitaufsätzen‘‘ werden 25 ‚Sonderdrucke, von den „Kleinen Beiträgen‘ 10 Belege geliefert. Anzeigenpreise: 1: Ss. M. 40.—, Y, S. M. 25.—, 1/,S. M. 15.—, Y, S. M. 10.—. Beilagen.bis zu IO g Gewicht 1000 Stück M. 30.—.

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I CARL WINTERS UNIVERSITÄTSBUCHHANDLUNG, HEIDELBERG

Soeben erscheint:

Historische Grammatik der niederländischen Sprache

von

M.J. van pER MEER

a. 0. Professor an der Universität Frankfurt am Main

I. Band: Einleitung und Lautlehre

(Germanische Bibliothek I.I. 16.) M. 16.—, gebunden M. 18.—

Etymologisches Wörterbuch der französischen Sprache

von

ERNST GAMILLSCHEG

0.ö. Professor an der Universität Berlin Lieferung ı—8 (Bogen 1ı— 24) Subskriptionspreis je M. 2.— Gesamtumfang etwa 16 Lieferungen.

Nach Erscheinen der letzten Lieferung wird der Preis erhöht. Das Manuskript liegt vollständig vor, sodaß jeden Monat etwa eine Lieferung wird erscheinen können.

Leitaufsätze.

4; Sprachmusik und Stilistik.

Vortrag, gehalten am 27. Mai 1926, bei der Tagung des Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbandes in Düsseldorf, von Dr. Emil Winkler, ord. Professor der romanischen Philologie an der Universität Innsbruck.

Noch ist es beim heutigen Stande der Dinge,. will man über ein Problem der Stilistik reden, nicht überflüssig vorauszusch'cken:-was. _

man unter Stilistik versteht. Die Auffassungen darüber gehen ja-noch -

recht weit auseinander. Wohl jedes unserer Bücher über den Gegen- stand gibt seine eigene Definition. Daher darf aber auch ich vielleicht bitten für diese Stunde wenn Sie, meine Damen und Herren, wollen, nur für diese Stunde unter Stil und Stilistik etwas Eigenes mit mir zu verstehen. Unter Stil etwa die Art der außerbegrifflichen seelischen Werte, die ein Sprechender, ein Schreibender, ein Schriftsteller, ein Dichter, eine ganze Sprachgemeinschaft bewußt oder unbewußt dank den Möglichkeiten setzt, die unserer Sprache, d.h. ihrem begrifflichen und lautlichen Mechanismus innewohnen. Stilistik aber ist dann die Wissenschaft von den Gemütsdispositionen und Seelenhaltungen, die in uns lebendig werden, wenn wir die im Kerne begrifflich-gedank- lichen, in ihrer Instrumentierung lautlichen Operationen vollziehen, zu denen die vom Sprechenden, vom Schreibenden, vom Schriftsteller . oder vom Dichter gesetzten Sprachzeichen uns veranlassen. Stilistik ist die Wissenschaft von den (außerbegrifflichen) seelischen Wirkungen, von den seelischen Werten der sprachlichen Gebilde.

Ob und in welcher Weise diese Werte allesamt ästhetische sind, die Stilistik also Kunstwissenschaft ist, soll uns für heute nicht be- unruhigen. Als höchstes Ziel der Stilistik, besonders dann, wenn sie sich den Sprachdenkmälern von spezifisch künstlerischer Absicht zu- wendet, erschiene es mir freilich, alle die Werte des Sprachdenkmals auf den gemeinsamen Nenner der Kunstwirkung, des Ästhetischen hin zu prüfen.

Damit aber hat es noch gute Weile. Vorläufig heißt es noch immer, die Wirkungen und Werte der Spracherscheinungen einfach zu er- fassen und in ihren sprachlichen, sprachmechanischen Korrelaten, also als Wirkungen eben sprachlicher Gebilde zu erklären und zu ergründen.

Nach solcher Begriffsumgrenzung fallen in das Gebiet der Stilistik einleuchtenderweise ebenso wie die Wirkungen, die sich aus den be-

GRM. XV. 1

2 Emil Winkler.

grifflich-gedanklichen Operationen im Sprachleben ergeben, auch die ‚Wirkungen, die an den klanglichen Sprachzeichen, den Lauten, Lau- tungen, Lautreihen als solchen haften. In der Tat sind uns ja Urteile, die den Lautwert von Sprachen betreffen, sogar als ästhetische, also als Stilurteile im höchsten Sinne, durchaus geläufig. Denn was heißt es anderes, etwa das Italienische klangvoller, schöner zu finden als das Französische ? Sehr gewichtige Stileigentümlichkeiten werden uns aber natürlich auch durch Nachweise wie etwa jenen zu Bewußtsein gebracht, wie grundverschieden die Länge der Sprechtakte im Fran- zösischen auf der einen Seite, im Deutschen oder Englischen auf der andern Seite ist,(s. Klinghardt, Die Neueren Sprachen, 1923, S. 12) u, LEW. ugw.: :Büe Btilistik verengt ihr Forschungsgebiet ohne Grund, iz gie erspart sich- dabei allerdings auch einige recht schwierige Pro- .. hlame* = Wern’sie ‚das Klanglich-Musikalische der Sprache allzu frei- 22 2geBig "den" Plönetikern überläßt. Die Phonetik hat sehr gründliche und wertvolle Arbeit geleistet. Bei der Eigenart ihrer Aufgabe mußte oder muß sie aber manches beiseite lassen, was für die Stilistik erste Bedeutung gewinnt. Schon die Grundlegung ist eine andere. Für die Phonetik ist Beobachtungs- gegenstand die durch die Versuchsperson oder auch durch eine noch so große Anzahl von Versuchspersonen gesetzte Lautung mit allen ihren bestimmten, objektiv gegebenen Eigentümlichkeiten. Für die Stilistik, die es mit so verfeinerten Kategorien wie den Wertkategorien zu tun hat, liegt die Sache weniger einfach. Sicher gehört z. B. zum Stile eines Redners oder einer bestimmten Rede die lebendige Stimm- führung des Redners, seine persönliche Art, die Laute und Lau- tungen zu prägen, etwa das Harte oder Weiche, das Kalte oder Warme seines Organs. Welche physische Stimme gehört aber zu einem Ge- dichte Goethes ? Die Stimme Goethes selbst oder die eines hervor- ragenden Rezitators? Norddeutsche oder süddeutsche Intonation ? Nord- oder süddeutsche Melodieführung ? Welche Stimme und Melo- dieführung gehört zu einem von vornherein für das stille Lesen ge- schriebenen Roman ? Ich bin tief durchdrungen von der Wichtigkeit der erprobten historischen Betrachtungsweise. Hier aber kommt man mit historischem Relativismus nicht aus. Jedes Kunstwerk ist, wenigstens prinzipiell, für ewige Dauer, für die ganze Menschheit ge- schaffen: jedes Gemälde für jedermann, der sehen kann, jedes sprach- liche Kunstwerk für jedermann, der auf den Mechanismus der be- treffenden Sprache zu reagieren vermag. Es widerspräche dem inneren Daseinstriebe Jedes Kunstwerkes, es nur mit den Augen seines Schöp- fers, mit den Stimmitteln seines Dichters erleben zu wollen. Denn bis zu einem gewissen Grade objektiv gegeben sind nur: in dem einen Falle, beim Gemälde, die Farben und Linien, in dem andern Falle, beim Sprachwerke, die Begriffe und ein bestimmter, durch die Gewohn- heiten der Sprachgemeinschaft, aus der das Werk herausgewachsen

Sprachmusik und Stilistik. 3

ist, grob vorgebildeter Eigenklang der Worte und Wortreihen. Auf dieser Grundlage hat der Stilistiker volles Recht ein Gedicht Goethes wie jedes andere Werk nach seiner eigenen Reaktion stilistisch zu werten. Die feinere musikalische Bewertungsgrundlage ist also für den Stilistiker nicht objektiv, sondern nur subjektiv gegeben wenigstens für einen Teil der musikalischen Elemente. Nur für einen Teil. Denn die praktische Beobachtung hat längst gezeigt (siehe z. B. Sievers, Rhythmisch-melodische Studien, S. 61ff.; Luick, GRM. II, S. 21), daß eine und dieselbe bestimmte musikalische Reaktion sich bis zu einem gewissen Grade zwangsläufig bei jedem Aufnehmenden cinstellt, der nur die im Sprachgebilde vorgezeichnete begrifflich- gedankliche Operation lebendig vollzieht.

Die musikali che Reaktion tritt erfahrungsgemäß auch bei voll- kommen stummem Lesen auf. Und da diese gewissermaßen innere musikalische Reaktion diejenige ist, die weitaus den meisten unserer Literaturdenkmäler, eben den zum Lesen bestimmten, adäquat ist, so steht sie oft im Vordergrunde des stililistischen Interesses. „An dem Vorhandensein einer inneren Sprache ist nicht zu zweifeln. Man kann sich bei strengster Ruhelage der Sprachwerkzeuge Sprachklänge ins Bewußtsein rufen, ebenso wie man Melodien in seinem Innern pro- duzieren kann, ohne etwa dabei zu summen‘“ (Jahresbericht der Öster- reichischen Gesellschaft für experimentelle Phonetik, Wien, 1925, S. 45). Ob es sich dabei bloß um Vorstellungen von Sprachklängen oder um wirkliche irgendwie assoziativ zustande gekommene oder irgendwie innervierte Klangempfindungen handelt, ist eine Frage der Psychologie. Mögen aber die Sprachklänge beispielsweise beim Lesen eines Gedichtes auf den Bereich unserer inneren Sprache beschränkt bleiben oder mögen sie hinausdrängen zu wirklichem Voll- zug in leisem oder lautem Sprechen immer sind wir durch die zuletzt angestellten Erwägungen schon mitten hineingelangt in den Problemkomplex, wo die musikalischen Elemente der Sprache nicht mehr bloß neben anderen Stilelementen, sondern in engster Einheit mit ıhnen und in Abhängigkeit von ihnen erscheinen.

Unsere Worte, die technischen Elemente unserer Rede, sind, ım Groben betrachtet, in ihrer weitaus überwiegenden Masse bloß kon- ventionelle Klangzeichen, einfache klangliche Marken, die ın keiner- leiinnerem, naturbedingtem Zusammenhange mit den Begriffen stehen, die sie bezeichnen. Diese Erkenntnis hat z. B. den fran- zösischen Dichter Sully-Prudhomme in seinen gedankentiefen Er- wägungen über die Verskunst (Reflexions sur l’art des vers) zu einem bemerkenswerten Ausspruch geführt: daß nämlich der Eigenklang, die sonorite propre jener Worte, die nicht ihrem Wesen nach Klang- oder Schallnachahmungen sind, nichts beizutragen vermöge zum Seelenausdruck des Schriftstellers; noch mehr: solchem vollen Seelen- ausdrucke hinderlich im Wege stehen könne. Für die Stilistik aber

®

4 Emil Winkler,

kann die. Erkenntnis der Unabhängigkeit des Wortklangs von der Wortbedeutung dazu führen das Forschungsgebiet in zwei Teile zu zerreißen, das der Bedeutungen, der begrifflich-gedanklichen Elemente einerseits und das der klanglich-musikalischen Elemente andererseits. Erst auf einer höheren Stufe würden die beiden Kreise in Berührung treten, wenn die Stilistik etwa sich fragen würde, wie im einzelnen Falle die begrifflichen und die Klangwerte sich zu einander verhalten, ob sie einander ergänzen, einander schwächen oder aufheben oder gar ın schreiender Diskordanz sich befinden.

Die durchaus richtige Annahme von der wesentlichen Verschieden- heit der Sprachlautung vom Begriff ım Verein mit der Auffassung, die in der Stilistik eine Art verfeinerter Grammatik, eine Art Idiomatik sei es einer ganzen Sprache, sei es eines einzelnen Schriftstellers sieht, war es wohl, die die meisten unserer Stilistikbücher veranlaßte die musikalischen Elemente der Sprache entweder ganz auszuschalten oder sie ein wenig von nebenher zu betrachten.

Nimmt man aber die Stilistik als die Wissenschaft von den seelischen Wirkungen und Werten der Sprache und geht man an den Erkenntnisgegenstand unmittelbar heran, dann verschwindet die Zweiheit Lautung und Begriff. Lautung und Begriff erscheinen in lebendiger Wechselbeziehung. Der Begriff, also der Geist, ist der Stärkere. Vermag er sich sein Lautzeichen auch nicht selbsttätig zu erschaffen, so vermag er doch den Klang des Zeichens und vor allem dessen Klangwirkung auf die Seele bestimmend zu modifizieren. Auf mancherlei Weise. Das ist zu zeigen.

. „Plus une idee est belle, plus la phrase est sonore,‘‘ hat Flaubert einmal hingeworfen (Brief an Mademoiselle Leroyer de Chantepie vom 12. Dezember 1857). Es war aber bereits möglich hier näher zuzu- sehen und zunächst einzelne, dann sogar systematisch bestimmte Relationen zwischen Gedankenführung und Seelenhaltung auf der einen, Intonierung auf der andern Seite zu erkennen. Ich brauche nur an bekannte Bücher von Sievers, Jespersen, Jones, Passy, Noreen, Saran, Klinghardt, Palmer und anderen zu erinnern!. Allerdings gehen einige dieser Untersuchungen wie es bei phonetischer, nicht sti- listischer Fragestellung nicht anders möglich ist vielleicht zu sehr von der Sprechäußerung eines Augenblickes aus, wo dann nicht leicht zu unterscheiden ist, was an den musikalischen Werten des Phonems etwa durch momentanen, zum Gedanken gewissermaßen hinzu- setretenen Affekt und was durch die gedanklich-begriffliche Tätig- keit als solche erzeugt ist. Und schon vor Jahren hat Luick ın einem Aufsatze über Dur und Moll ın deutscher und englischer Dichtung

! Vgl. auch Julius Stenzel, Sinn, Bedeutung, Begriff, Definition, ein Beitrag zur Frage der Sprachmelodie (Jahrbuch für Phil. I., 1925). Auch J. Tenner, Jahresbericht der österr. (Gesellschaft für experimentelle Phonetik II (Wien, 1915), S. S1ff.

Sprachmusik und Stilistik. h)

(GRM. II) zur Vorsicht vor dem allzunaheliegenden Schlusse gemahnt, daß einfach die Seelenstimmung, der Affekt die Sprachmusik hervor- bringe, also z. B. elegische, traurige Stimmungen Moll veranlassen.

Für die stilistische Fragestellung in unserem Sinne gibt es das, was man einigermaßen unbestimmt Affekt, Stimmung nennt, zunächst überhaupt nicht. Besonders das geschriebene Denkmal, das vorzüg- lichste Beobachtungsobjekt der Stilistik, kennt ıhn zunächst nicht; vielmehr kennt es, da unsere Sprache eben eine Begriffssprache ıst und alles Außerbegriffliche an ihr an Begriffe geheftet erscheint, nur Begriffszeichen. An den Begriffen und Begriffsoperationen erst kann sich für den Lesenden Affekt, d. h. etwas ergeben, was mit dem Affekt des Schreibers einige Verwandtschaft hat. Der Affekt fließt aus der Begriffsoperation, so wie hier zur Frage steht, ob musikalische Werte durch sie bedingt sein können. Folglich bleibt der sogenannte Affekt hier am besten ganz beiseite.

Wohl aber gehört hierher ein anderes sehr wichtiges Problem der Stilistik ein Problem, das das der Suggestion heißen könnte. Jede Sprachäußerung ist für den Aufnehmenden zunächst natürlich die Sprachäußerung eines Sprechers, eines Schreibers, d. h. die Äußerung eines vom Ich des Aufnehmenden verschiedenen Ich. Das Sprach- verstehen andererseits ist durchaus Eigentätigkeit des Aufnehmen- den, ist tätiger Vollzug der geistigen Operationen, die durch die Sprachzeichen eben ausgelöst werden sollen. Je stärker nun die innere Erlebnistätigkeit des Aufnehmenden ist, desto lebendiger kommen auch die musikalischen Werte des gelesenen Wortes in ıhm, dem Aul- nehmenden, zur Wirkung. Zahllos aber sind die sprachlichen Mittel und Wege, durch die etwa der Dichter in vielerlei Abstufungen den Leser zu geringerem oder stärkerem Eigenerleben zwingen kann. In diesen Abstufungen liegt, nebenbei bemerkt, ein gut Teil des Problems der Dichtungsgattungen beschlossen. Die Lyrik z. B. ist eine Gattung des starken Eigenerlebens, die Epik die Gattung des schwachen Eigen- erlebens, die Gattung des mehr kontemplativen Verhaltens!. Und man sieht sogleich, warum ein und dasselbe Wort in einer Iyrischen Satz- prägung ganz anders klingen kann als etwa in einer anderen. Die eine Satzprägung das ist dann eben in bestimmter Hinsicht ıhre Eigenart zwingt zu viel Ilebhafterem Erleben auch der musikalischen Werte des Wortes als die andere. Alle die Mittel und Wege also, die der Dichter anwendet, um starkes Erleben des Lesers zu er2 edlen, gehen direkt ein in den Komplex Sprachmusik und Stilistik. Man denke etwa folgenden Satz in einer Erzählung: ‚Es war mir, als ginge durch die blaue, atmende Nacht ein rätselhaftes Rufen, und nirgends war in der Natur Schlaf.“ Und daneben nun die Verse von Hoffmanstal, bei denen ich bitte vom Rhythmus ganz abzusehen, damit um so klarer hervortrete, wie durch die bloß veränderte. sugge- ı. Vgl. Verf., das dichterische Kunstwerk, Heidelberg, 192%.

6 Emil Winkler.

stivere, weil weniger abgegriffene Wortstellung die einzelnen Laute erst zu klingen beginnen:

Mir war, als ginge durch die blaue Nacht,

Die atmende, ein rätselhaftes Rufen,

Und nirgends war ein Schlaf in der Natur!.

Ein bloßer Satzteil wie „Mir war‘ schon zwingt durch seine un- gewöhnliche, d. h. hier suggestivere Wortstellung zu anderem Heraus- treiben der Lautung als etwa das gewöhnliche „Es war mir.‘ Vielleicht wird sich in Hinkunft aus solcher Betrachtungsweise ganz neues Licht auf das Problem der mehr oder weniger klingenden Sprache dieses oder jenes Dichters ergeben.

Aber nicht nur die größere oder geringere Suggestivkraft etwa eines Satzes, sondern auch der Begriff selbst beeinflußt in stärkster Weise den Klang und Klangwert des Wortes. Am klarsten liegt das bei den bekannten Lautmalereien zu Tage. Neunzig von 100 der sogenannten Onomatopöien sind keine, wie man öfters beobachtet hat und wie sich leicht erproben läßt, wenn man die Wirkung der be- treffenden Lautungen auf Individuen beobachtet, die der betreffenden Sprache nicht mächtig sind, mit der Lautung also keinen Begriff ver- binden. Mit anderen Worten: die eigentümliche Wirkung der Laut- malereien geht nicht von den Lauten als solchen, sondern viel eher von den entsprechenden Begriffen aus; genauer: erst auf dem Re- sonanzboden der Begriffe beginnen die Laute zu singen und zu klingen. Das gilt ebenso von den einzelnen Worten wie von den Sprachkomplexen. Das Wort ‚Donnergepolter‘‘ bekommt seinen . ganzen Schallwert sicher erst durch den Begriff und erst der Begriff wird z. B. einen Rezitator dazu zwingen gewisse Klangelemente des Wortes zu unterstreichen.

Oder ist daran zu zweifeln, daß erst von dem Augenblicke an, wo man die folgenden Verse von Brentano mit ihren Begriffswerten aufnimmt, man auch ihren Klangwert ganz erlebt und im Vortrag entsprechend heraustreibt:

Es brauset und sauset

Das Tamburin,

Es prasseln und rasseln

Die Schellen drin;

Die Becken hell flimmern

Von tönenden Schimmern.

Um Kling und Klang,

Um Sing und Sang

Schweifen die Pfeifen und greifen Ans Herz

Mit Freud’ und mit Schmerz! (Die lustigen Musikanten).

! In anderem Zusammenhange auch zitiert von Sievers, Ziele und Wege der

Schallanalyse, Heidelberg, 1924, S. 45 (Sonderabdruck aus der Festschrift für Streitberg, Stand und Aufgaben der Sprachwissenschaft).

Sprachmusik und Stilistik, 7

Mit dem Feinsinn des Dichters, aber auch mit der ihm eigenen Schärfe der Unterscheidung hat Sully-Prudhomme die einfache Be- obachtung so formuliert: es gebe Worte voll harmonischen Eigen- klangs und dadurch von einer Zartheit, die nichts gemein hat mit dem Begriff, den das Wort ausdrückt. Umgekehrt kann ein unharmonisches Wort eine erhabene und liebenswerte Sache bezeichnen. Aber nach und nach werde die Diskordanz zwischen Begriff und Klang dem Ohre unmerklich, die Seele leihe dem Worte den Klang, der dem Begriffe, dem Begriffswerte, entspreche!.

Aber die Seele leiht nicht nur. Sieschenkt auch. Vielleicht kann man es ein Leihen nennen, wenn Klangvorstellungen beim Hören von Klangbezeichnungen, etwa beim Hören des Wortes „singen“, sich uns zu einer Art von Klangempfindungen verdichten. Es ist ein Schenken, wenn der Begriff und die Art der Begriffsverbindung die Lautungen als solche, als physische Erscheinungen beeinflußt.

In seinen Rhythmisch-melodischen Studien (S. 69) hat Sievers schon vor Jahren gezeigt, daß im ,„Faust‘‘ Faust selbst vorwiegend in Versen mit Tiefschluß, d. h. mit tiefer Note am Ende des Verses, Famulus Wagner dagegen in Versen mit Hochschluß spricht. So Faust gleich beim ersten Auftreten Wagners nach dem Verschwinden des Erdgeistes. Es klopft:

Faust: OTodt!l ich kenns, das ist mein Famulus. Nun werd ich tiefer tief zu nichte, Daß diese Fülle der Gesichte Der trockne Schwärmer stören muß.

Das mit hoher Stimmlage und mit Hochschluß zu sprechen, wäre ın der Tat unmöglich. Ebenso unmöglich aber wäre es, den gleich anschließenden Versen Wagners etwa Tiefschluß zu geben. Die Stimm- lage Wagners erscheint aus den Textworten heraus, ganz ohne Rück- sicht auf die Stimmlage des Schauspielers, zur Gänze höher als die Fausts.

Wagner: Verzeiht! ich hört euch deklamieren! Ihr last gewiß ein griechisch Trauerspiel. In dieser Kunst mögt ich was profitieren, Denn heutzutage würkt das viel. Ich hab es öffters rühmen hören, Ein Komödiant könnt einen Pfarrer lehren.

Wie kommen also die Tieflage und die Tiefschlüsse in den Versen Fausts, die hohe Stimmlage und die Hochschlüsse in den Versen Wagners zustande? Es liegt nahe sich zunächst an das primär Akustische, an die Lautungen als solche zu halten. Man könnte fest- stellen, daß in den Versen Fausts 8 i, 3 o, 5 u stehen, während die ersten vier Verse Wagners 14 ı, also fast doppelt so viel als die Verse Fausts, dafür aber kein o und nur 2 u haben; daß von den vier

! Vgl. auch Wundt, Völkerpsychologie I, 313; Paul, Prinzpien?, S. 182.

8 ir Emil Winkler.

Versen Fausts nur zwei, in der Rede Wagners sich aber sämtliche ersten vier Verse auf i reimen. Diese Erklärung reicht indes nicht aus. Man muß, glaube ich, auch hier die Begriffe und dann jene Sprachelemente heranziehen, die schon unser Schulgebrauch als stilistische bezeichnet. (Dabei will ich keineswegs jede einzelne nun vorzuschlagende Erklä- rung als unbedingt zwingend hinstellen). Es ist vielleicht keine son- derliche Entdeckung, daß die Verse Faustens auf die tiefliegenden Begriffe Tod, tief, tiefer, zunichte, trocken, stören, müssen, gestimmt sind. Welche Bedeutung das aber für die Sprachmusik der Stelle hat, sieht man am deutlichsten im zweiten Verse:

Nun werd ich tiefer tief zu nichte,

wo trotz der vielen i die Stimme unaufhaltsam gedrückt, in die Tiefe gezwungen wird. Nun ist aber gerade dieser Vers ın der späteren U'm- arbeitung geändert worden. Wir wissen von Sievers, daß Goethe bei der Umarbeitung das alte Intonationsschema vielfach durchbrochen hat. So auch hier. Der Vers lautet jetzt: Es wird mein schönstes Glück zu nichte!

Sofort treiben die Begriffe ‚„schönstes“ und „Glück‘‘ die Stimme in die Höhe und es bedarf einer merklichen Anstrengung, die Steig- tendenz zu hemmen und das Wort zunichte in den von ihm geforderten Tiefton zu zwingen. Es gelingt kaum. Der Vers schließt für den Leser,

der sich keinen Zwang antut, mit deutlichem Hochton. Woher aber der Tiefschluß des Verses Daß diese Fülle der Gesichte. ... ? An der Tatsache selbst ist nicht zu zweifeln. Am Begriffe dürfte der Tiefschluß nicht liegen. Vielleicht ist er durch ein ganz kleines Stilistikum verursacht. Ich ersetze die Worte ‚der Gesichte‘‘ durch die Worte „von Gesichten‘ und sofort geht meine Stimme unwill- kürlich in die Höhe. Das heißt: meine Stimme steigt, wenn mein Ge- danke in die Unbegrenztheit hinausblickt; die Stimme fällt, wenn der Gedanke im erdgegebenen Begrenzten sich bescheidet. Die Be- obachtung wird in einem Augenblicke zu wiederholen sein.

Und nun noch etwas. Die Verse Fausts sind, um die geläufig ge- wordenen Terminologie zu verwenden, durchaus abschließender Art. Nach jedem Satz könnte die Rede zu Ende sein: das ist mein Famulus; nun werd ich tiefer tief zu nichte; daß... der trockene Schwärmer stören muß. Die abschließende Rede aber hat, wie wir von vielen Autoritäten auf dem Gebiete der Phonetik wissen, den Fallton, und damit ist eine letzte stilistische Grundlage für die bestimmte musı- kalische Wirkung der vier Faustverse gefunden.

Die Sätze Wagners dagegen sind durchaus weiterweisend, also schon in der Grundlage steigtonig gebaut. Verzeiht! ich hört Euch deklamieren! usw. Ein Satz zieht den andern stilistisch nach sich; das Ganze erhält eine Tendenz nach oben. Vergessen darf man freilich

Sprachmusik und Stilistik. 9

nicht aber auch diese Beobachtung betrifft ja ein ausgesprochenes Stilistikum daß Faust durch das Wort „Schwärmer‘, das er im letzten Verse seiner Rede von dem eintretenden Wagner gebraucht, uns von vornherein disponiert die Rede Wagners hochzulegen. Dazu kommen die preziös gefärbten Begriffe deklamieren, profitieren, die gezierte Apokope griechisch Trauerspiel, die Eitelkeit des Satzes „Denn heutzutage würkt das viel‘‘ alles Elemente, die Tonlage und Melodie in die Höhe tendieren lassen.

Die Stilistik darf hier wie überall auch die unscheinbarsten Dinge nicht aus dem Auge lassen. Die ersten vier Verse des Eingangs- monologs ım Urfaust hatten, wie Sievers zeigt, Tiefschluß:

Hab nun ach die Philosophey Medizin und Juristerev,

Und leider auch die Theologie Durchaus studiert mit heißer Müh.

In der neuen Fassung sind (ebenfalls nach Sievers) Hochschlüsse

an Stelle der Tiefschlüsse getreten: Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.

Der Reimvokal ei der zwei ersten Verse der ursprünglichen Fassung gegenüber dem Reimvokal ı der späteren Fassung kann nicht aus- schlaggebend für die musikalische Veränderung sein. Denn die zwei darauffolgenden Verse haben den Reimvokal beibehalten und sind trotzdem musikalisch anders geworden. Auch die veränderte Akzent- verteilung äch, die Philosophey, gegenüber ach Philösophie dürfte keine große Rolle spielen. Es bleibt also auch hier nur eine stilis- tische Erklärung: die Affizierung des Begriffs durch den bestimmten Artikel drückt den Ton. Philosophie, Theologie (ohne Artikel) stre- ben hinaus in die Höhe des unendlichen Geistes, „die Philosophey“ (und man beachte jetzt die wenigstens für uns altertümliche, ver- staubte Form mit ey), „die Theologie‘, sind gelehrte, strenge Be- zirke, Schulbezirke, Themen, nichts, was dem Ton einen sonderlichen Aufschwung geben könnte. Noch fesselnder ist aber vielleicht der Tiefschluß ‚mit heißer Müh‘“ gegenüber dem Hochschluß ‚mit heißem Bemühn‘. Mir wıll scheinen, daß etwas von dem Elan, dem Schwunge des Tätigseins Tätigkeit kommt ja im Verbalbegriff Bemühn zum Ausdrucke den Ton beschwingt, andererseits etwas von der Last der Mühe der Nominalbegriff „Mühe“ wirkt als Sache, nicht als Tätigkeit auf den Ton des Wortes Mühe drückt.

Es mag überflüssig sein darauf hinzuweisen, welchen Nutzen etwa die Literaturwissenschaft, dienach dem Warum bestimmter literarisch- künstlerischer Wirkungen zu fragen hat, aus einer so gefaßten Pro- blemstellung ziehen kann. Welche Gründe des Satzbaues, der Be-

10 Emil Winkler.

griffswahl, der Gedankenführung mögen natürlich neben metrisch rhythmischen Gründen dafür maßgebend sein, daß z. B. um nun einen romanischen Beleg zu wählen der altprovenzalische Boeci so ganz anders klingt, so viel dumpfer, so viel tiefer als die Sancta Fides, die ganz auf weiblich-kindliche Sprachmusik gestimmt ist. Ich wähle Stellen von verwandter Inspiration: Boeci: Ecvos Boeci cadegut en afän,

e granz kadenas, qui l’estän a pesant;

reclama Deu de c6l lo rei lo grant:

„domine pater, e te m fiav’eu tant,

e cui marc& tuit peccador estänt.

las mias musas qui ant perdut lor cänt!

de sapiencia anava eu ditan;

plor tota dia, faz cosdumna d’efant;

tuit a plorär repairen mei talant... .“

Man hört deutlich den enttäuschten, den reumütigen Boethius

klagen.

Dagegen Sancta Fides:

Dunc se signed ab los tres dez

E pregged Deu, q’est segle fez:

„Deus, qim guardestz de tot mal vez, S’aram valez, ben o farez,

Q’als teus dissist: „,‚Quan coit’aurez, Si m’o dizes, semprem veirez.‘“““ Seinner, preg vos que m’aiudez.

De vos voill molt ge me guidez,

Qe, czom cuid, Don, l!’anma ’n menez.“

Etwas wie kindlich-sonniger Enthusiasmus klingt aus solchen Versen.

Die psycho-physische Erfahrungstatsache, aus der man fast a priori auf einen Zusammenhang zwischen gedanklichen und musikalischen Wirkungen im Spracherleben schließen müßte, hat Sievers in seiner grundlegenden Darstellung über Ziele und Wege der Schallanalyse in der Streitberg-Festschrift von 1924 auf Grund eigener und Rutzscher Beobachtungen klar formuliert. Sievers schreibt: „Sobald ein Indi- viduum in Worten zu denken beginnt, tritt in seinem Zentralorgan, dem Gehirn, eine zunächst für die Einzelsituation spezifische innere Spannung (psychische Spannung) ein. Diese Spannung aber strahlt, vermittelt durch den Nervenapparat, auch auf den gesamten Körper aus, und ruft daher in dessen verschiedenen Teilen zwangsweise Mus- kelkontraktionen (physiologische Spannungen) hervor, die in ihrer spezifischen Eigenart der spezifischen Eigenart der psychischen Grund- spannung parallel gehen und ihr eindeutig verkoppelt sind. Ins- besondere erstreckt sich die Ausstrahlung auch auf das Sprachorgan selbst, so zwar, daß sie eben auch wieder spezifisch gestaltete Sonder- arten von Aktion des Stimm- und Atemapparates hervorruft: aber auch diese sind nicht von all den sonstigen Körperaktionen gleicher

Sprachmusik und Stilistik. 11

Situation loszulösen.‘‘ Selbstverständlich betrifft der Zusammenhang zwischen Begriffsoperation und Sprachmusik zunächst nur die feineren sprachmusikalischen Elemente, Melodieführung, Intonation usw. Das Problem Sprachkörper und Sprachfunktion bleibe also hier beiseite!. Der konventionelle Eigenklang, die sonorit& propre der Worte und Wortreihen wird durch die sprachliche Gedankenführung bloß melo- disiert und rhythmisiert. Die Fragen des Rhythmus, die ver- hältnismäßig einfacher liegen, habe ich dabei im einzelnen außeracht gelassen. Denn daß beim Rhythmus neben dem gewissermaßen grammatikalischen expiratorischen Akzent des einzelnen Wortes der Sinnesakzent innerhalb des größeren Wortgefüges die Hauptrolle spielt, braucht nicht erst gesagt zu werden. Jedenfalls ergibt sich, vom Standpunkte der Stilistik, der Satz: Begriff und Begriffsope- ration sind auch für die musikalische Seite des Spracherlebens die festen Wertregulatoren. Der Begriff hat nicht bloß seinen seelischen Eigenwert; dadurch, daß er die Bewegungen der Sprechorgane be- einflußt, beeinflußt er mittelbar auch die seelischen Wirkungen dieser Bewegungen denn auch von diesen Bewegungen selbst gehen ja solche Wirkungen aus —, beeinflußt er auch die seelischen Wirkungen der durch die Bewegungen hervorgebrachten Sprachlaute.

Sievers selbst bezeichnet seine Forschungen als schallanalytische und sein Augenmerk ist vornehmlich auf den Zusammenhang zwischen Sprachmusik einerseits, Körperbewegung andererseits gerichtet. Trotz- dem hat sich Sievers, worauf man bisher kaum geachtet hat, auch die Wissenschaft vom Stile sehr verpflichtet. Es ist das bedeutende Ver- dienst seines Verfahrens, daß es, vielleicht unausgesprochen, doch um so lebendiger, das sprachliche Erleben als gedankliches und musi- kalisches, doch immer als Einheit faßt. Daher ist es auch durchaus verständlich, daß Sievers dem maschinellen Experiment mißtraut: die Maschine kann die feinsten Stimmnuancen, nicht aber Denktätig- keiten registrieren. Und solange nicht bewiesen ist, daß alle Elemente unserer inneren Sprache wirklich und voll auch durch unser äußeres Sprachorgan zum Ausdrucke kommen, solange nicht bewiesen ist, daß die innere Musik unserer Sprachseele auf dem Instrument unserer Sprechorgane voll ausführbar ist, solange kann die Stilistik mit der maschinellen Sprachaufnahme nicht recht viel anfangen.

Darum aber auch sind für den Stilistiker die Sieversschen Signale, die Sieversschen Kurven usw. ein nicht zu unterschätzendes Hilfs- mittel. Sie bedeuten wirkliche lebendige Symbole für die Gesamtheit unseres an ein Gedankenerlebnis geknüpften sprachmusikalischen Erlebnisses. Man braucht nur einige der Sieversschen Versuche an durchaus unbefangenen Personen einmal mitgemacht zu haben, um

ı Vgl. aber z. B. Ammann, Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugend- bildung, 1925, S. 221ff.

12 Emil Winkler. Sprachmusik und Stilistik.

sich davon zu überzeugen. Man kann Heines wiegende, Schillers tönende, Goethes klare Sprachmusik auf dem Hintergrunde des Ethos Heines auf der einen, Schillers, Goethes auf der anderen Seite, nicht kraftvoller symbolisieren als durch die Sıeversschen Zeichen. Mögen diese Dinge aber immerhin noch in den Anfängen, im Werden sein, möge, wie Sievers immer hervorhebt, ihre Handhabung eine ge- wisse motorische Veranlagung voraussetzen, hier ist doch etwas im Entstehen, das einmal eine wichtige Fixationsschrift für die geistigen und musikalischen Erlebniswerte sprachlicher Komplexe sein wird. Der Vorzug dieser Fixationsschrift etwa voreiner adaptierten Notenschrift wäre bei dem einleuchtenden Nachteil, daß mit ihrer Hilfe eben nur sprachliche Komplexe, z. B. ganze Verse fixiert werden könnten doch der, daß der sprachmusikalische Komplex auf Grundlage des ganzen, ihn mitbestimmenden, im Kerne begrifflich-gedanklichen Er- lebnisses erfaßt würde.

Wenn dann auf Grund solcher Fixierung der sprachmusikalischen Erscheinung eine systematische Ergründung des Zusammenhanges zwischen der musikalischen und der gedanklichen Erscheinung möglich sein sollte, so werden damit auch einige genetische Probleme neu in unser Gesichtsfeld rücken. Etwa das Problem, ob ın der Seele des schaffenden Sprachkünstlers die Gedankenreihe, die Begriffsfügune das zuerst Gegebene ist, oder aber ob des Dichters Dichten, wie mancherlei Selbstzeugnis uns versichert, von einem inneren Singen und Klingen ohne gedanklichen Bezug seinen Ausgang nimmt und erst dieser innere Sang und Klang die Begriffe sich formt, „dem Dichter nur das einfällt, was in die beherrschende Melodie sich fügt.‘ (Luick a. a. O.). Sievers glaubt z. B. beobachtet zu haben, daß Jeder Mensch seine feste musikalische Kurve, seine Personalkurve hat. Goethe eine andere als Schiller, Schiller eine andere als Heine, usw usw. Frucht- barer als von vornherein zu zweifeln und abzulehnen wäre es, einmal zu untersuchen, ob diesen festen Personalkurven nicht feste Gewoln- heiten des Satzbaues, der Wortwahl usw., kurz stilistische Gewohn- heiten auch im Schulsinne des Wortes, entsprechen. Wichtig wäre aber z. B. auch zu wissen, ob die Intonationsgewohnheiten ganzer Sprachgemeinschaften primäre psycho-physische Gegebenheiten sınd oder ob sie etwa durch Verallgemeinerung von bestimmten gedanklich- syntaktischen Gefügen her, also im Gefolge von gedanklich-gramma- tischen Gewohnheiten sich ergeben haben, oder ob beide Möglichkeiten bestehen und sich verbinden können.

Ich beschränke mich auf das Gebiet der Stilistik, wie ıch es am Beginne heute umschrieben habe. Will die Stilistik Ernst damıt machen ein festes wissenschaftliches System aufzurichten, dann mul sie auch das reiche Material, das die Phonetik des letzten Vierteljahr- hunderts ihr zur Verfügung gestellt hat, als vielfach stilistisch bedingtes. organisch von ihrem Standpunkte aus nutzen lernen. Le de&vorer et,

Albrecht Schaeffer. Die Technik der Darstellung in der Erzählung. 13

apres J’avoir bien digere, le convertir en sang et nourriture, wie Du Bellay den Übersetzern und Nachahmern antiken Literaturgutes rät. Dann wird die Stilistik auch ihrem letzten Ziele einen Schritt näher sein, dem Ziele wissenschaftlich begründeter künstlerischer Wertungen der Spracherscheinungen!.

2. Die Technik der „Darstellung‘“ in der Erzählung.

Eine Erwiderung von Albrecht Schaefter.

Es ist ım allgemeinen nicht üblich, daß Autoren auf Kritiken erwidern. Mag es hierfür gute Gründe geben, so treffen aber diese kaum zu, wo es sich um fachliche Arbeiten, um sachliche Analyse und einen Nachweis künstlerischer Normen und Regeln handelt; nicht also um ein subjektives Verhältnis zur Dichtung als Wert, sondern um ein objektives als Beispiel. Da insbesondere der Verfasser des unter obigem Titel in dieser Zeitschrift (XIV, 222{f.) erschienenen Aufsatzes, Herr Dr. Berend, meinen Roman ‚„Helianth‘ nur als Muster benützt, um an ihm gewisse Theorien der epischen Kunst nachzuweisen, so möchte ich annehmen, daß eine Erwiderung darauf ıhm selbst wie den Lesern nicht unerwünscht sein dürfte,

Um was es sich handelt, ist das Form-Prinzip der scheinbaren Objektivität, das heißt des Verschwindens des Autors hinter seiner Darstellung, und in der Durchführung dieses Prinzips die beiden \fomente der perspektivischen Einheit nach der das Gesche- hende nicht unmittelbar vor dem Auge des Lesers erscheint, sondern mittelbar im Blick einer der epischen Gestalten —, und der Stetig- keit des zeitlichen Fortschreitens. Von dieser Forderung der Objekti- vıtät behauptet Herr Dr. Berend, daß sie erstlich jüngeren Datums, überdies unberechtigt sei, ja dem Wesen der Dichtung geradezu wider- spreche und aus einer unorganischen Anpassung an die dramatische Form hervorgegangen sei. Hierauf möchte ich erwidern; das heißt, ich möchte nichts tun als an einem einzigen Beispiel ältesten Datums nachweisen, daß diese Behauptung auf dies Beispiel in keiner Weise zutrifft. Dies ist von den beiden homerischen Dichtungen die mir eründlicher bekannte, die Odyssee. NB., da es mir trotz eines fünf- Jährigen Studiums an irgend einem äußeren Nachweis über Befähigung auf diesem Gebiete leider gebricht, so sei die Bemerkung erlaubt, daß meinen homerischen Erfahrungen die Bemühung von immerhin vier Jahren zugrunde liegt.

! Eben ist ein sehr erfreuliches Büchlein erschienen, das auch dem Stilistiker twofern er sich um die sprachmusikalischen Dinge bekünnmert), manche Anregung zıbt: Erich Drach, Die redenden Kinder, 1926 (Wissenschaft und Bildung 221). Ausdrücklich hingewiesen sei auch auf A. Debrunner, Lautsymbolik in alter und neuester Zeit, GRM XIV, S. 321ff. (Korrekturnote).

14 Albrecht Schaeffer.

Nun zitiert Herr Dr. Berend selber den Homer als Bürgen für eine, wie er sagt, „umständliche, nichts auslassende und übereilende Erzählungsweise‘‘, der es „nicht um Spannung, um feste Verknüpfung der Ereignisse, um Erreichung eines bestimmten Zieles zu tun sei“. Leider wird zur Erhärtung dieser Behauptung nichts angeführt als ein Zitat Schlegels, das wiederum nur eine Behauptung ist, daß nämlich diese Art Erzählung überall anfangen und aufhören könne. Und so stehe ich denn freilich vor diesen Behauptungen und weiß kaum, was ich dazu sagen soll. Ich müßte bitten, zunächst einmal Homer zu lesen denn ich kann ihn hier nicht abdrucken —, um zu erfahren, daß er erstens nicht umständlich ist und nur das aus- läßt, was überflüssig oder störend wäre; jedenfalls nicht umständ- licher als Wolfram oder Gottfried, als Goethe oder Scott oder, kurzum, irgend ein Erzeugnis der epischen Kunst. Mit welcher Kunst der dichtesten Verknüpfung ferner zu Werke gegangen ist, wie da im ganzen und im einzelnen auserlesen, aufgebaut, verschlungen, bemessen und geplant wurde, das habe ich in meinem Buche „Dichter und Dich- tung‘ (im Insel-Verlage) nachzuweisen gesucht und glaube übrigens nicht, daß andern als Laien die von mir vorgebrachten Tatsachen unbekannt sind. Hier mag es genügen, daran zu erinnern, daß, erst- lich:

Ilias wie Odyssee Muster sind für die szenische Darstellung mit ununterbrochenem zeitlichem Fortschreiten;

sodann, daß die Ilias nichts ist als der Gesang vom Zorn des Achilleus, beginnend nicht irgendwo und wann, sondern mit der Ver- anlassung dieses Zornes und endend mit seiner vollzogenen Aus- wirkung und der Besänftigung (der Rückgabe von Hektors Leichnam an Priamos). Ebenfalls ist die Odyssee nichts als die Darstellung von der Heimkehr des Odysseus, nicht etwa von seinen Irrfahrten, wes- halb sie nicht irgendwo und wann, sondern mit der Mahnung Athenens an die Götter beginnt, Odysseus endlich heimkehren zu lassen, und die Erzählung der Irren tief in das Innere der Dichtung als Ich- Erzählung verlegt wird, wo sie nun ihren Sinn für das Ganze gewinnen kann, das heißt den Hintergrund bilden der Irre, der Meere und Fremde für Heimat und Rückkehr. Arbeitet der Dichter doch sogar mit durchgeführten Motiven wie dem von Orestes und Klytaim- nestra als Folie zu Telemach und Penelope, das heißt von Klytaim- nestrens tragischer Untreue gegen Penelopes epische Treue, und ebenso ÖOrests tragischer Empörungstat gegen Telemachs epische Duldung. Bekannt dürfte auch sein, daß die Odyssee aus verschie- denen, durcheinander geschlungenen Teilen, d. h. ursprünglichen, gesonderten Liedern besteht, die zum Teil älter waren als selbst die Ilias die ihrerseits älter war als die Odyssee —, die aber von dem späten Autor mit höchstem Kunstsinne zur großen verzweigten Form ineinander gewoben wurden. Diese erwähnten sind freilich große

Die Technik der Darstellung in der Erzählung. 15

oder weite Züge der Verknüpfung; trotzdem ist wohl nicht anzu- nehmen, daß ein Autor, der im Großen soviel vermochte, es im Ge- dränge des Kleinen habe fehlen lassen, und es sei beiläufig immerhin erwähnt, wieviel unsaubre und törichte Hände im Lauf von Jahr- hunderten sich hineinmischten, um den klaren und sicheren Gang zu trüben und zu verwirren. Und noch sei an den zweiten Gesang, an den Verlauf der Ithakerversammlung mit Telemachs Anklagen und den Erwiderungen der Freier und Mentors erinnert, wo an dramatisch gespanntern Aufbau das episch Mögliche wohl geleistet sein dürfte.

Was das Wort Schlegels bedeuten soll, weiß ich vollends nicht. Ein Kunstwerk ist ein solches, weil es aus lauter Notwendigkeiten besteht. Solchen wie eben aufgezählt; wie kann sein Anfang oder Ende, wie kann irgend etwas daran zufällig sein ? Gerade aber als Kunstwerk unterscheiden sich Ilias und Odyssee von den vielen Rhapsodenliedern, die vorher waren. Die Gesamtheit der heroischen Mythen waren im Volke bekannt; wo immer Männer gesellig zu- sammen kamen, trugen die angestellten Rhapsoden Fragmente von Zeit entsprechendem Umfang, irgendwo anfangend, vor. Homer aber war mehr als Rhapsode, war später, war Verdichter und Überlieferer - und als solcher auch Auswähler aus dem gesamten Stoff, das will sagen: er wählte, verdichtete und überlieferte die beiden großen Er- scheinungen, die hohen Sinnbilder hellenischen Wesens: die unbesieg- liche Jugend-Schöne Achills und den unbesieglichen Mannes- Geist des Odysseus. Und in diese beiden großen Behälter schöpfte er sorgsam wählend das Gemäße, das Nötige, und nirgend war Zufall.

Nun aber zu jener Forderung der Objektivität oder der Unsicht- barkeit des Dichters. Diese ist in den homerischen Dichtungen in vollkommener Weise durchgeführt. Nirgend findet sich eine Meinungs- äußerung des Autors, und er sagt oder beschreibt kaum etwas, ohne daß eine der Figuren dies sähe, und er beschreibt nicht mehr, als sie sehen kann. Von Eisen waren seine Prinzipien nicht. Er behielt seine Freiheit, allein in den nötigen Grenzen der Lebens- Beweglichkeit führte er sie durch, und lückenlos durchgesetzt wurde das Prinzip der fortschreitenden Darstellung. Er gibt keine Berichte, sondern nur Szenen in minutlichem Ablauf.

Nun allerdings wäre eines ein großer Irrtum: wenn man nämlich annehmen wollte, Homer habe irgend so etwas wie Form oder Prin- zipien überhaupt gekannt. Sondern was hier wie Technik erscheint, was Angelegenheiten Spielhagens sein mögen, das sind äußerste Mate- rialisierungen von Geist, sind die feststellbaren Randverhärtungen der Lebensgesamtform; die Auswirkungen der geistigen Atmosphäre, in der das Volk lebte, in der seine Sänger sangen. Angaben über ihre Beschaffenheit finden sich im Homer selbst. Es betonen nämlich die „göttlichen Sänger‘‘, so Femios wie Demodokos, daß ihre Lehrmeister dıe Götter waren; daß der Sänger vom Gotte bestürmt den schönen

16 | - Albrecht Schaeffer.

Gesang anhebt, wird gesagt, und einmal, als Penelope dem Femios Vorwürfe macht, daß er ein ihr Herz zerreißendes Lied singe, findet Telemach ihr Sohn keine schönere Zurechtweisung für sie und Recht- fertigung für ihn, als daß er sagt: nicht der Sänger sei schuld, sondern Zeus selber, der ihm diesen Gesang eingab. Was aber bedeutet das ? Daß für Menschen-Meinen kein Raum ist, wo die Gottesstimme ver- lautet. Daß der Ursprung des Gesangs bei den Göttern war und der Sänger nur das ihm eingeflößte Wissen der höheren Wesen vermittelte. Wenn andererseits Odysseus am Sänger rühmt, er habe von Taten und Leiden der Achaier so wahrheitsgetreu gesungen, als sei er selber dabei gewesen, so bedeutet das, daß der Sänger nur, was er selber sieht, nur Schau, nur Darstellung mitteilt. Wem aber diese Er- klärung mit Hereinbeziehung göttlicher Wesen zu transzendental vor- kommen mag, der mag denn das gleiche sich menschlicher und auf die Weise erklären, daß jene Dichter Rhapsoden waren, Haus- Angestellte, Leibeigene womöglich, also wiederum nur gewürdigte Vermittler von Helden- und Götter-Größe, und welcher Hörer hätte denn ihre eigene Meinungsäußerung oder nur den Anschein von , persönlicher Anschauung annehmen wollen ? Da schließlich Aischy- los später war als Homer, so weiß ich nicht, ob hier der Beweis von unorganischer Anpassung an das Drama erbracht werden kann. Ich meinerseits behaupte nicht gern Allgemeines. Wenn aber aus den vorhergehenden, unbestreitbaren Tatsachen etwas gefolgert werden kann, so ist es das, daß der sichtbare oder hörbare Erzähler eine Er- scheinung der Sentimentalität im Schillerschen Wortsinne oder eine romantische Erfindung ist.

Und nun, weil Herr Dr. Berend meinen „Helianth‘“ als Muster für die objektive Darstellung erläuterte, noch ein Wort aus meiner privaten Erfahrung und über mein Verhältnis zu diesem Form- prinzip. Ich habe, als ich seiner Zeit den Roman unternahm, dies Prinzip selber als Autor verborgen zu bleiben nicht vor Augen gehabt, ja ich habe nicht einmal daran gedacht. Es wurden daher eanze Partien des Buches in der berichtenden Form geschrieben, Teile davon sind jetzt noch in den „Tagebüchern‘ zu erkennen, andere wurden später umgeschrieben. Ich habe, wie es meine Ge- wohnheit ist, von vorn angefangen, und so entstand zunächst das erste Buch mit seiner szenischen Darstellung eines Tagesverlaufs, wobei übrigens, ohne mein Wollen, der Umfang sich weiter dehnte, als geplant war, das heißt die Darstellung im Detail sich ausführlicher gestaltete, als beabsichtigt war. Und nun erst, bei späteren Über- arbeitungen, wurde mir die Verschiedenartigkeit gewisser Teile erkenn- bar, ich empfand die Unstimmigkeit, die Stilwidrigkeit und weit mehr. Es war ein ähnliches Empfinden, glaube ich, wıe das des homerischen Hörers, der von Göttern und Helden hören wollte, aber keinen Rhapsoden; es war das Empfinden von einem Geist des

Die Technik der Darstellung in der Erzählung. 17

Werkes, der zu gestalten, der zu vermitteln war, und dessen Maß ich überlegen fand meinem Maß, sodaß ich mich ihm unterzuordnen hatte, nicht über. Erkannt wurde ein Formprinzip, jawohl, in der gerin- geren Sphäre des Bewußtseins; was aber in Wahrheit bestand, und wovon jenes Formprinzip nur die Auswirkung war, das war etwas Tieferes. „Ich habe keinen Namen dafür“.

Zwei kleine Anmerkungen zum Beschluß.

Herr Dr. Berend findet, es sei an einer strengen Durchführung des Gesetzes der Perspektive nichts gelegen, indem er meint: „Es macht für den Leser im allgemeinen wenig Unterschied, ob es heißt: eine Fledermaus huscht vorüber, oder: er sah eine Fledermaus vorbei- huschen.‘‘ Wenn nun Homer bei Athenens Verschwinden im dritten Gesang der Odyssee nicht sagt: Sie verwandelte sich in einen Meer- adler, sondern: „Als sie so gesprochen hatte, entschritt (wohl zu bemerken, ich bitte: nicht sie schwand oder schied oder ging, sondern schritt), die lichtäugige Athene anzusehn wie ein Meeradler‘, welche Gründe mag wohl Homer für sein Innehalten der Zuschauer- perspektive gehabt haben ?

Letztlich: um zu erhärten, daß ich auch vor den äußersten Kon- sequenzen der zeitgebundenen Darstellung nicht zurückschrecke, führt Herr Dr. Berend an, daß ich den Helden gewisse Geschäfte vornehmen lasse, die der Mensch nun einmal innerhalb gewisser Zeiträume vor- zunehmen genötigt ist. Dazu möchte ich fragen: Erstens: Warum schrecke ich doch anscheinend davor zurück, die Heldin dergleichen vornehmen zu lassen ? Zweitens, warum geschieht auch dem Helden dergleichen nur dreimal im ganzen, davon zweimal am gleichen Tage, während doch in vier Teilen des Romans ganze Tagesläufe dargestellt werden ? Tatsächlich, von äußerster Konsequenz kann gar keine Rede sein, sondern die prekäre Angelegenheit hat andere und wiederum nicht technische Gründe. Im dritten Buch die studentische Kneip- szene wäre nämlich nicht vollständig ohne den Besuch der Toilette mit den daran geknüpften ironiıschen Bemerkungen über diesen für das Trink-Studententum nicht ganz belanglosen Ort. Im ersten Buch hat die Sache sogar zwei Gründe, einen leichten und einen schweren. Der leichte ist die Aufregung des Helden, Aufregung, die bekannt- lich nicht selten solch eine Wirkung hat. Der schwere besteht in der Erniedrigung, ja Entwürdigung, die von der Verrichtung ausgeht; mit andern Worten: die eigentliche Unlauterkeit von Georgs Beziehung zu Magda wird auch dadurch angedeutet, daß und so weiter. Es scheint mir aber, als habe Herr Dr. Berend von diesem Verhältnis Georgs zu Magda eine andere, ernstere Auffassung, da er an anderer Stelle seines Aufsatzes meint, Georgs und Magdas Liebe entwickele sich innerhalb achtzehn Stunden vom ersten Keim bis zum letzten Akt. Was sich aber, nach meiner Meinung, bei Georg entwickelt, ist nur eine Liebelei; daß er noch selben Abends in Magdas Zimmer

GRM. XV. 2

18 Oskar Walzel.

hinaufsteigt, hängt gar nicht damit zusammen, ist eine Überraschung für ihn selbst wie für sie; im Gegenteil möchte ich ihm, bei aller Leicht. - fertigkeit, soviel zutrauen, daß er nicht hinaufgestiegen wäre, wenn er eine wahre Liebe für sie empfunden hätte. Sie empfindet wahr, daruın gibt sie sich ihm, aber nicht weil ihre Liebe soweit gediehen ist, son- dern weil er es so will.

Zum Beschluß hoffe ich nun, daß kein Mißverständnis vorliegt. D. h. ich hoffe, daß der ganz bestimmte Grund, um deß willen ich das Vorstehende geäußert habe, auch wirklich besteht. Damit will ich sagen, daß Herr Doktor Berend mit seinem Aufsatz für mich den Anschein erweckte, als ob er an die Existenz gewisser Prinzipien der dichterischen Formung glaube, und zwar nicht nur immanent ent- halten in den Dichtungen, sondern an und für sich, losgelöst, von Dichtern oder Schriftstellern erfunden und ihren Erzeugnissen zu- grunde gelegt. Diese Meinung ist es, wogegen ich mich zu wenden gedachte. Ich will selbstverständlich nicht bestreiten, daß es Autoren gegeben hat oder noch gibt, die so verfahren; möchte aber glauben, daß diese Ausnahmen sind. Jedenfalls wenn Herr Doktor Berend zwei Formprinzipien unterschied: die berichtende aus dem Geiste des Erzählers und die szenisch darstellende, und wenn er der letzt- genannten ihre Existenzberechtigung abspricht und ich glaube, ich darf sagen, daß er es tat —: so habe ich ihm zunächst nachgewiesen, daß es zwei Dichtungen von höchster Bedeutung gibt, denen eben dieses Formprinzip immanent ist. Wenn er ferner den „Helianth‘‘ als nach demselben Formprinzip geschaffen darstellt, so möchte ich zu bedenken geben, daß ich nach dem ‚„Helianth‘‘ mehrere andere Romane in Versen und in Prosa herausgebracht habe, denen das besagte Formprinzip nicht zugrunde liegt. Warum also, muß man wohl fragen, wurde hier ein bedeutendes Formprinzip aufgestellt, mit äußerster Hartnäckigkeit in einem Werk durchgeführt und danach wie ein verbogenes Werkzeug verlassen ? Es gibt nur eine Antwort auf diese Frage, nämlich die, daß tatsächlich ein Prinzip weder auf- gestellt, noch befolgt, noch verlassen wurde; kurzum daß es keine Prinzipien an sich gibt, sondern nur Werke, denen sie immanent sind, aus denen man sie ablösen und deren Ordnung man in ihnen er- kennen kann.

3. Von „Minna“ zur „Emilia“. Von Dr. Oskar Walzel, o. ö. Professor für neuere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Bonn. Vier Werke bezeichnen die Höhe von Lessings Wirken für die Dichtung, zwei Kunstwerke und zwei Werke über Kunst. 1766 er- scheint ‚„Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie‘‘,

Von „Minna“ zur „Emilia“. 19

1767 „Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück‘“, von 1767 bis 1769 die „Hamburgische Dramaturgie‘, 1772 „Emilia Galotti‘“. Sie keimen samt und sonders in früheren Jahren, auch die „Dramaturgie“, mag sie immer als Tagesschriftstellerwerk dem Augenblick ent- stammen. Die Jahre, die im Gefolge Tauentziens verbracht wurden, bereiteten auch sie vor, ebenso den „Laokoon‘“. Am engsten mit ihnen und mit ihrer Umwelt, dem Siebenjährigen Krieg, verknüpft ist „Minna von Barnhelm‘“. Lessing selbst bezeichnet das Stück als „verfertiget im Jahre 1763‘. In diesem Abschlußjahr des großen Kriegs spielt das Stück. Ausdrücklich wird im zweiten Auftritt des zweiten Aufzuges das Tagesdatum genannt: der 22. August.

Schon das feste Band, das hier Dichtung und nächste geschicht- hehe Wirklichkeit miteinander verbindet, rückt das Stück weitab von der Sächsischen Komödie. Da war immer wieder die Frage erwogen worden, wie dem deutschen Lustspiel Darstellung deutschen lebens (deutscher Sitten, wie man sagte) glücken könne. Man war sich bewußt, in allem übrigen ängstlich dem Vorgang des Auslands zu folgen. Man wollte dennoch mehr bieten als Abklatsch der Lebens- schilderung dieses Auslands. In ‚Miss Sara Sampson“ hatte Lessing solchen Ehrgeiz ganz aufgegeben. Jetzt wagte er das volle Gegenteil, wagte zugleich etwas wirklich Gefährliches. Wäre, was ihm damals wie etwas Großes und Nachhaltiges erscheinen mußte, das Ende des langjährigen Ringens, nicht wirklich von höchster weltgeschichtlicher Bedeutung gewesen, das Stück hätte das üble Los gezogen, mit einem baldvergessenen Vorfall zu sehr verschwistert zu sein, als daß es nicht auch mit dessen Verblassen allmählich an Farbe verloren hätte. Goethe durfte im siebenten Buch von „Dichtung und Wahrheit‘ das Drama die erste aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theater- produktion von spezifisch temporärem Gehalt nennen und seiner ‚nie zu berechnenden Wirkung‘“ gedenken. Er bezeugte damit, wie richtig Lessing gehandelt hatte. Er erkannte gut, daß hier endlich der Blick in eine höhere, bedeutendere Welt eröffnet war, aus der literarischen und bürgerlichen, in der sich die Dichtkunst bis dahin bewegt hatte.

Tatsächlich lag alles an der Persönlichkeit Friedrichs II. Er bestimmte den Maßstab der Bedeutung des Stücks und der Auf- nahme, die es fand. Wäre er kleiner gewesen, als Mensch wie als Herr- scher, das Schicksal von Lessings Lustspiel hätte sich anders gestaltet. Der „vollkommen norddeutsche Nationalgehalt‘‘, den in „Minna von Barnhelm‘“ Goethe feststellt, ruht in der Tatsache, daß nie wieder durch einen Dichter mit gleicher Kunst und mit gleicher Würde das Wesen des großen Königs abgespiegelt worden ist, aber auch des Preußentums, das er ın schwerer Zeit nach seinem Willen geformt hatte. Unbyzantinischer ist einem Fürsten kaum je gehuldigt worden als in Minnas Bemerkung, daß Friedrich II., der ein großer Mann sei, auch wohl ein guter Mann sein möge. Die ganze Haltung der preu-

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ßischen Soldaten des Stücks, vielleicht etwas übermäßig unterstrichen durch die entgegengesetzte Lebensführung des Glücksritters aus Frank- reich Riccaut, beweist, zu welcher Stufe von Sittlichkeit Friedrich seine Leute emporgehoben hat. Um so trauriger wirkt freilich die Tatsache, daß Friedrich für den Sachsen Lessing, der wie kein anderer die reine Höhe des preußischen Lebensgefühls von damals erfaßt und ausgdrückt, dank Voltaires klatschhafter Eifersucht gar kein Ver- ständnis haben, ihn sogar für einen anrüchigen Gesellen halten konnte.

Die Menschen des Stücks stehen auf einer weit höhern Stufe als die nicht nur der üblichen Sächsischen Komödie, auch des jungen Lessing. Sie haben eine ganz andere Geistes- und Herzensbildung. Sie wissen sie auch voran Franziska und ihr Partner Werner anders in Worte umzusetzen, allerdings auf Kosten der Komik. Un- gemilderte Komik ist in „Minna‘“ nur den Tiefstehenden zugewiesen, Just und dem Wirt, dann der Chargenfigur Riccaut. Das erinnert an Holberg. Nicht aber wird von Lessing die Führung des Vorgangs diesen Trägern des Komischen überlassen, sondern Tellheim und Minna, beide ausgeprägte Persönlichkeiten, halten die Zügel fest in der Hand; sie sind viel zu selbständige Menschen, als daß sie auch nur von ferne den Liebespaaren Holbergs glichen. Vollends steht nicht wie bei Gellert Karikaturhaftes neben enger Philistersittlichkeit, Belachenswertes neben Langweiligem. Charaktertypen nach dem alten Brauch sind abermals nur die tiefstehenden Figuren. So auf- dringlich wie in der Sächsischen Komödie werden sie nie, weil sie nur wenig Raum im Stück einnehmen. Völlig verliert sich das Charakter- typische, wo das Wesen friderizianischen Soldatentums darzustellen ist.

An Diderots Wunsch, das « honnöte » eines Standes auf die Bühne zu bringen, erinnert Tellheim wie sein Wachtmeister, aber auch Just, soweit er unerschütterliche Treue zu Tellheim erhärtet. Englisches Lustspiel hatte den Soldaten schon weit von den Bramarbasbräuchen abgerückt, die auch noch bei dem jungen Lessing sich bemerklich machen. Überhaupt nutzt Lessing diesmal wie immer nimmt er unbedenklich auf, was ihm für seine Zwecke tauglich erscheint Motive des Engländers George Farquhar, der schon um 1700 dem Lustspiel Menschen statt der Typen zuführte. Deutlich aber wird, daß Lessing vielmehr in das Gebiet des bürgerlichen Schauspiels hinübergreift, dem Lustspiel daher Begebnisse und Konflikte von einem Ernst zumutet, die dem Wesen der Komödie nicht unbedingt zukommen. Wenn die Romantik eines Tages die Anklage erheben konnte, daß die Komödie sich gewöhnt habe, komische Energie durch tragische zu ersetzen und ernsthafte dramatische Handlungen aus dem häuslichen Leben mit komischen Reizen zu schmücken, so meinte sie freilich die fast gesamte Entwicklung des Lustspiels nach Aristophanes und spielte tatsächlich gegen sie die Komik des Aristophanes aus.

Von „Minna‘“ zur ‚Emilia‘. 21

Allein Lessing wird in „Minna‘ zum vollen Widerspiel des Aristo- phanes und treibt den Lebensernst, der sich auf dem Wege zur Rühr- komödie immer mehr durchgesetzt und das Lustspiel zur nächsten Vorstufe des bürgerlichen Schauspiels gemacht hatte, nahe ans Tra- gische heran. |

Oder ist, was Tellheim veranlaßt, auf Minna zu verzichten, wirk- lich nur ein Wahngebild von Ehre? Und bedarf es nur der Zer- störung dieses Wahngebildes und nicht vielmehr voller Wiederherstel- lung einer mit Unrecht angezweifelten Ehre, den guten Ausgang zu erzielen ? Tellheim ist zu Beginn des Stücks unversehens nicht nur ein Mittelloser, ihm wird auch vorgeworfen, daß er unlauter gehandelt hat. Die echte Liebe eines hochgesinnten Weibes kann trotzdem an ihm festhalten. Als Ehrenmann und als früherer Offizier Friedrichs II. darf er jedoch Minna nicht zumuten, seine Gattin zu werden, ehe seine Unschuld nachgewiesen ist. Erst nachdem das geschehen ist, wird sie tatsächlich sein Weib.

Gewiß beruht die Verdächtigung auf einem Versehen. Wenn Schiller und die Romantik dem Lustspiel das Gebiet der Erkenntnis- irrtümer, der Tragödie das der sittlichen Entscheidungen zuwiesen, so bewegt sich dank solchen Voraussetzungen „Minna‘ so haarscharf an der Grenze von Erkenntnisirrtum und sittlicher Entscheidung, daß der Stoff ebensogut zu einem Lustspiel wie zu einem Trauerspiel getaugt hätte. Nur dank dieser Tatsache kann Tellheim sich zu einer der typischen Gestalten von Lessings. Dramatik entwickeln, zu einem, dessen sittlicher Affekt mit seiner Umwelt in Gegensatz gerät, der zugleich seine Sittlichkeit wahrt, indem er sich den Wünschen dieser Umwelt nicht beugt. Nur weil der Grund dieses sittlichen Konflikts, die falsche Anklage, leichter zu beseitigen ist, als Tellheim selbst meint, gewinnt die Verbitterung, der er sich hingibt und die ihn Minna von sich weisen heißt, etwas von unnötiger Übersteigerung, also eines Fehlgreifens des Verstandes, wie es dem Lustspiel taugt. Daß indes die Anklage in nichts zusammenfällt, liegt es nicht an dem Fürsten, der nicht bloß ein großer, auch ein guter Mann ist ?. Das Stück wurde ein rechtes Lustspiel, nur weil in dieser friderizianischen Luft ein Begebnis untragisch verlaufen darf, das unter andern Vor- aussetzungen zu einer Katastrophe sich gestalten könnte. Von dieser Seite gewinnt „Minna‘ auch ihre volle innere Geschlossenheit. Vor- sang und Umwelt sind völlig auf einen und denselben Ton gestimmt.

Komik in strengem Sinn des Wortes wird nicht bloß gewahrt, weil Lessing mit ungemeiner Kunst des Abschattens von Tellheims hamlethaft grüblerischer Natur seine Menschen durch viele Stufen weiterleitet bis zu dem Spitzbuben von Wirt, dem ehrlichen Rauh- bein Just und dem offenherzigen Falschspieler Riccaut. Auch nicht bloß weil auf dieser Stufenleiter Komisches und Rührendes sich zu- weilen mischt, weil, wie es echter Humor liebt, Lächeln und Tränen

22 Oskar Walzel,

sich miteinander verbinden. (Zuweilen wird die Rührung für unser Ge- fühl aufdringlich und fußt in dem üblen Edelmut in Geldangelegen- heiten, den das spätere deutsche Rührstück zu Tode hetzte.) Vielmehr paart Lessing mit der Linie, die von Tellheims gekränkter und wieder- hergestellter Ehre vorgezeichnet wird, eine zweite; sie ist durchaus auf ein Spiel des berechnenden, doch auch irrenden Verstands angelegt. Es ist die Ringintrige.

Diese Linie zeichnet den Aufbau des ganzen Stücks vor, sie gibt dem Stück Inhalt, sie füllt die Aufzüge, die bis zur Wiederherstellung von Tellheims Ehre sich abspielen, mit Vorgang und dramatischem Spiel, ja sogar noch die Auftritte, die dem Eintreffen von Friedrichs II. entlastendem Handschreiben folgen. Schon zu Beginn des Stücks wird das vorbereitet. Dem vierten Aufzug, der schwersten Aufgabe eines Fünfakters, schenkt die Ringintrige seinen Reiz. Diesen Aufzug noch durch eine weithin sichtbare Episodenfigur, die sonst im Stück nicht erscheint, durch Riccaut, zu stützen, mag Lessing von Plautus gelernt haben. Allein gerade im vierten Aufzug zeigt Minna durch die Wendung, die sie dem Spiel mit dem Ringe gibt, entscheidende Züge ihres Wesens, ihres Scharfsinns, ihrer Menschenkenntnis, ihrer Lebenskunst. Daß sie zuletzt im Verwerten solcher Fähigkeiten sich vergreift, zählt gleichfalls zu den rechten Zügen einer Komödie, ist abermals Irrtum des Verstands und nicht des Herzens.

Ob indes der Gang der Ringintrige leicht sich durchschauen läßt? Die Frage könnte mit der andern erwidert werden, ob es für den künstlerischen Zweck nötig ist, die ganze Intrige bis in die Einzel- heiten ihres Ablaufs dauernd vor dem innern Auge zu haben. Mag, wer das Stück ganz erfassen will, sich das etwas ausgetüftelte Hin und Her der Schicksale des Rings aufzeichnen. Überraschung und Spannung ergibt sich durch den Ring auch dem, der das nicht tut; vor allem von der Bühne herab.

In Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ spielt, auch recht verwickelt, eine ähnliche Ringintrige hinein. Sıe bereichert den Schluß des Stücks, sie hat nicht von ferne die Bedeutung, die bei Lessing das Wandern des Rings gewinnt. Sie bleibt im Rahmen bloßen Neckens.

Hat Lessing dies Motiv bewußt übernommen und weitergetrieben ? Wenn es der Fall gewesen ist, so wäre das nur ein neuer Beleg seines Brauchs, Altbewährtes für seine Zwecke zu nutzen. Shakespeare gewönne dann für „Minna‘ die Bedeutung, die für „Sara“ die älteren Stücke von Medea haben. Was bei Shakespeare lustspielmäßig wirkt, muß Gleiches auch in anderm Gewande bewähren. Gerade indes weil bei Lessing solche nahe Berührung mit Shakespeare ungemein selten ist, fiele um so schwerer ins Gewicht, wie weit hier tatsächlich Über- einstimmung besteht, wie weit nicht. Bald trat der Sturm und Drang mit Stücken auf, die mit einzelnen Werken Shakespeares unmittelbar

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wetteiferten. Lessing tut das nie. Nur ein fast nebensächliches Motiv Shakespeares wird in „Minna‘ zum Träger eines guten Teils des ganzen Vorgangs. „Wenn man den Ärmel aus dem Kleide eines Riesen für einen Zwerg recht nutzen will, so muß man ihm nicht wieder. einen Ärmel, sondern einen ganzen Rock daraus machen.‘ So heißt es im 73. Stück der ‚Dramaturgie‘ angesichts von Chr. Felix Weißes „Richard dem Dritten‘. Hier empfiehlt Lessing, aus einzelnen Ge- danken Shakespeares ganze Auftritte, aus einzelnen Auftritten Shake- speares ganze Aufzüge zu machen. Wenn die Ringintrige der „Minna“ wirklich auf dem „Kaufmann von Venedig‘ beruht, so verlangt die „Dramaturgie‘‘ bloß, was von Lessing selbst in „Minna‘“ bescheident-

lıch geleistet worden war.

* * *

Lessings „Laokoon‘ hat auch noch der Banause rasch zur Hand, wenn es zu sagen gilt, ob und wie weit ein Werk bildender Kunst‘ ins Dichterische, eine Dichtung ins Gebiet bildender Kunst mit Un- recht hinübergreift. Kein anderes Ergebnis der ästhetischen Selbst- besinnung Lessings ist der Nachwelt gleich geläufig geblieben. Auch wer die Grenzen zwischen den beiden Kunstgebieten nicht für etwas ein für allemal Festes und Unverrückbares hält, nennt gern Lessing als den Verfechter der entgegengesetzten Ansicht. Es ist, als wäre Lessing allein Anwalt dieser Meinung, als hätte keiner vor ihm Ver- wandtes vertreten.

Das Gegenteil ist richtig. ‚„Laokoon‘ bringt sogar recht wenig, was nicht von andern schon gesagt worden wäre. Ja er bringt nicht einmal alles, was schon vorgebracht worden war. Darum konnte Herder Scheidungen des ‚„Laokoon‘ sofort weitertreiben, dem Scheide- künstler Lessing nachweisen, daß er nicht fein genug geschieden habe. Er konnte Lessing mit dessen eigenen Waffen schlagen. Abermals zeigt sich, daß Lessing Antworten auf Fragen der Elementarästhetik gern von andern übernimmt. Abermals ist Mendelssohn eine unent- behrliche Stütze.

Die Frage nach den eigentlichen Mitteln der einzelnen Künste ist dem 18. Jahrhundert von Anfang an bedeutsam. Sie lag in der Richtung eines Forschens, das den besondern Leistungen der ein- zelnen Sinnesorgane nachging. Seit dem 16. Jahrhundert trieb man das. Du Bos, der Gewährsmann der Schweizer, trennte 1719 in diesem Sinn die ‚Zeichen‘, mit denen einerseits Musik anderseits Malerei arbeitet, von denen der Dichtung. Natürliche heißen ihm jene, künstliche diese. Denn Sprache, das Mittel der Dichtung, sei nicht durch ein inneres Band mit dem Begriff verknüpft, den sie ausdrücken wolle. Dagegen seien die Töne der Musik Zeichen, die der Natur unmittelbar entstammten; die Farben und Formen der Malerei zeigten vollends den bewegten Körper selbst. Du Bos’ « Re-

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flexions critiques sur la poösie et la peinture » sind freilich nicht das Werk eines klarordnenden Systematikers. Ein Feinfühliger verrät, wo er die Grenzen der Künste ahnt, wo er etwas beobachtet, das nur von Dichtung, oder etwas, das nur von Malerei ausgedrückt werden kann. Er weiß, daß der ganze Gehalt von Corneilles berüähmtem « Qu’il mourüt! » dem Verdammungsurteil, das ein Stoiker über seinen Sohn fällt, niemals in ein Gemälde umzusetzen wäre. Er legt indes viel Wert auf die Fähigkeit der Dichtung, durch das Wort innere Anschauung zu wecken. So konnte er den Schweizern zu einer Stütze ihrer malerischen Dichtung werden. Gerade gegen solche Wortmalerei kämpft der „Laokoon‘“.

Schärfer erfaßte Diderot um 1750 die ‚Zeichen‘‘ der einzelnen Künste. Er setzte fest: « Chaque art d’imitation a son hieroglyphe. » Er fragte grundsätzlich nach den Fällen, in denen nur ein einziges ‚Zeichen und kein anderes möglich ist. Die Pantomime offenbarte leicht, welche Zeichen ihr verschlossen sind. Umgekehrt verdeut- lichten ihm der Blinde und der Taubstumme, wie die Welt sich dar- stellt, wenn eine Reihe der üblichen Zeichen dem einzelnen unkennt- lich wird.

„Zeichen“ ist das Ausdrucksmittel eines geistigen Inhalts, ıst die Gestalt, die ein Gehalt annimmt. Ins Neuplatonische versetzt die Lehre von den Zeichen. Sinnbilder, Symbole sind die Zeichen. Das Wort ist etwas Symbolisches. Aber auch die Züge eines Gesichts ver- raten etwas Innerliches, Verborgenes. So lebt sich in Hamanns Lehre vom Wort und von dessen symbolischem Wesen, ebenso ın Lavaters Physiognomik die Lehre von den Zeichen aus. Sprache der Natur wurde im 18. Jahrhundert genannt, was wie ein Zeichen Gottes in der Natur, Sprache der Kunst, was im (Gregensatz zu begrifflichem Wortausdruck aus dem Kunstwerk erfühlt werden konnte. Das Wort „Chiffresprache‘“‘ der Natur erscheint in diesem Zusammenhang. All das entspricht der Vorstellung, daß ın der Erscheinungswelt etwas Göttlichgeistiges sich birgt, dessen eigentliches Wesen nur in ab- geblaßter Gestalt sich den Sinnen kundgibt. Das ist platonische Betrachtungsweise in der besondern Form, die von Plotin der Ideen- tehre Platons gegeben wird.

Anders meint es Diderot. Ihm bedeutet Erkenntnis durch die Sinne weit mehr als denen, die von Platon kommen. Um so wichtiger ıst ihm, zu entscheiden, wie weıt der einzelne Sinn das Weltbild bestimmen kann. Er wendet solche sensualistische Weltauffassung auf die Kunst an. Er entdeckt mit Feingefühl und mit Schärfe, wo die einzelne Kunst ihre Mittel mißbraucht und dem Sinnesgebiet, das ıhr gehört, Ansprüche zumutet, denen es nicht gewachsen ist, vor allem, wo gemalt wird, was sich nicht malen läßt oder was nur ım Bericht des Dichters große Wirkung erzielt, auf der Leinwand hin- gegen an Wirkung verliert. Er gelangt auf solchem Weg bis zu der

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Umkehrung des oft angeführten Worts von Horaz und kündet: Ut pictura poesis non erit.

‚Lessing berührt sich auf Schritt und Tritt mit Diderot, auch wo er sicherlich Diderots gleiche Äußerungen noch nicht kennen konnte. Zwecklos wäre es, Abhängigkeit Lessings von Diderot bis ins kleinste errechnen zu wollen; oder gar wechselseitige Abhängigkeit des einen vom andern. Die Dinge waren damals schon so im Flusse, daß zwei wahlverwandte Denker zu gleichen Ergebnissen gelangen mußten angesichts eines verhältnismäßig nicht sehr großen Umkreises von Fragen, die immer wieder erörtert worden waren. Darum erscheinen bei beiden immer wieder dieselben Fälle: Helena bei Homer und Alcina bei Ariost oder der trauernde Agamemnon des Timanthes, der jam- mernde Philoktet des Sophokles und anderes. Daß bildende Kunst nur einen einzigen Augenblick darstellen kann, daß sie daher den fruchtbarsten wählen muß, ist damals schon allgemein bekannt.

Als um 1700 Shaftesbury ausführlich erwog, wie die Erzählung des Xenophon, die Herkules an dem Scheideweg zeigt, in ein Gemälde sich umwandeln lasse, nahm er schon das Wichtigste vorweg. Sein Neffe James Harris gelangte in dem ““Discourse of Music, Painting and Poetry’ von 1744 (er wurde 1756 verdeutscht) dank der Ver- wertung der Begriffe ‚„ergon‘‘ und ‚energeia‘‘ des Aristoteles und dank ihrer Verknüpfung mit dem Gegensatz ‚Nebeneinander im Raum“ und ‚„Nacheinander in der Zeit‘ nicht nur unmittelbar an Lessing heran; er überholte ihn sogar, indem er feststellte, daß Dichtung zwar wie Musik nicht ein ‚‚ergon‘‘ schaffe, sondern durch ‚‚energeia‘“ wirke, allein durch die Fähigkeit der Sprache, Vorstellungen zu wecken, über die engern Grenzen der Musik hinausschreiten dürfe. Auf Harris gestützt, konnte Herder später Lessings Ordnung der Künste umstoßen und verbessern.

Schon der Untertitel des „Laokoon‘“ erweckt ja Bedenken. Er deutet auf den Gegensatz von Malerei und Dichtung. Das ganze Werk bezeugt, daß vielmehr der Gegensatz von bildender Kunst und Dichtung gemeint ist. Lessing erblickt überdies in der Plastik das Entscheidende, ordnet ihren Bräuchen die Malerei unter, bemißt die Malerei einseitig vom Standpunkt antiker Plastik. Schon da zeigt sich, wie er sich von Winckelmann bestimmen läßt. Mit Winckelmann ist er überzeugt, daß antike bildende Kunst nur das eine Ziel hatte, Schönes darzustellen. Und dies Schöne wird durchaus auch von Lessing gefaßt als Betätigung edler Einfalt und stiller Größe. Der „Laokoon‘‘ kämpft gegen Barock genau so eifrig wie Winckelmann. Noch später wahren diesen Standpunkt die „Antiquarischen Briefe‘ von 1768/9 und die Abhandlung ‚Wie die Alten den Tod gebildet‘“ von 1769. |

Wie auf dem Gebiet der Fabel und der Tragödie für Lessing seit Winckelmanns Schrift von 1755 griechische Dichtung kanonischen

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Wert hat, so im ‚„Laokoon‘ die Plastik der Griechen. Sophokles ver- harrt an der Stelle, die er schon 1759 bei Lessing erreicht hat. Den Kanon des Epos bezeichnet Homer. Der ganze „Laokoon‘ gibt bin- dende Beobachtungen nur dem, der ganz ebenso von der kanonischen Bedeutung griechischer Klassık überzeugt ist. Aber wegen solcher Haltung, also dank der Abhängigkeit von Winckelmann ist das Werk das wirksamste Mittel geworden, Winckelmanns Kunstauffassung dem deutschen Klassizismus einzuprägen.

Es ist echt lessingisch, daß trotzdem der „Laokoon‘‘ von einem Einwand gegen Winckelmann ausgeht, sogar seinen Titel diesem Ein- wand dankt und daß er zuletzt Winckelmanns Hauptwerk, die „Ge- schichte der Kunst des Altertums‘“ von 1764, im einzelnen berichtigt.

Viel zu winckelmannisch sah Lessing antike Plastik, um das eigentlich Irrige von Winckelmanns Worten über die Laokoongruppe zu erkennen. Auch Lessing nahm keinen Anstand daran, daß Winckel- mann dies Werk ausgesprochen antiken Barocks in die entgegen- gesetzte Formenwelt der edeln Einfalt und der stillen Größe verschiebt. Vielmehr dient ihm Winckelmanns Vergleich der Gruppe mit der Darstellung des Vorgangs in Vergils ‚„Aeneis‘‘ zum Ausgangspunkt für die Scheidung von Dichtung und „Malerei“. Die ersten fünfzehn Stücke des ,„Laokoon‘‘ gewinnen, scheinbar in zufälligem Hin und Her des Forschens, schon Entscheidendes. Sie ersteigen ihre Höhe in den Erörterungen des fruchtbaren Augenblicks. Sie wenden sich segen das Bedürfnis der Dilettanten, fesselnde Stellen von Dichtungen um Jeden Preis in Bilder umgesetzt zu wissen. Mehr und mehr steigert sich auf diesem Pfad das Gefühl des Lesers, daß die Gebiete beider Künste sich deutlicher abgrenzen lassen, als es landläufig geschieht. Nach solcher Vorbereitung stellt Lessing im sechzehnten Stück das Steuer Jäh um. Er analysiert nicht länger bezeichnende Fälle, sondern geht deduktiv vor. Raum und Zeit, Nebeneinander und Nacheinander, Körper und Handlungen sind die Begriffspaare, auf dieer die beiden gegensätzlichen Künste zurückführt. Das erinnert an Harris. Lessing bleibt hinter Harris zurück, indem er, dem Figuren und Farben als „Zeichen“ der „Malerei“ erscheinen, schlechthin der Dichtung als „Zeichen“ die artikulierten Töne zuweist, als ob sie nicht in weit strengerm Sinn die „Zeichen“ der Musik wären.

Die volle Schärfe der Scheidung wird etwas gemildert, wenn Lessing zeigt, wie weit Handlung auch durch Körperdarstellung, wie: weit Körperliches durch Handlung angedeutet werden kann. Eine reiche Fülle von Belegen folgt.

Mendelssohn hatte, besonders in den „Betrachtungen über die (Juellen und Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften“ von 1758, das vorbereiten helfen. Du Bos und Diderot sprechen aus seinen Darlegungen. Er hatte Übergriffe einer Kunst in das Gebiet einer andern duldsamer zugegeben. Allein wenn er sogar noch mehr

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thedretische Darlegung dem Freunde zu Gebote gestellt hätte, das Entscheidende des „Laokoon‘ hat er so wenig erreicht wie die Mehr- zahl der älteren Erörterer des Gegenstands. Die Vorrede des „Lao- koon‘“ gibt der Erwartung Ausdruck, daß, wenn Lessings Raisonne- ment nicht so bündig sei wie das A. G. Baumgartens, seine Beispiele doch mehr nach der Quelle schmeckten. Keiner, auch nicht Diderot, der bald da, bald dort ein feinsinniges Wort hinwirft, hatte bisher las Fragengebiet an gleich vollständiger Sammlung von Einzelfällen ergründet, dargestellt und beantwortet, keiner aus einem vielgestal- tiren, auseinanderstrebenden, schwer zusammenfaßbaren Stoff einen gleich kunstvoll einheitlichen Bau aufgeführt. Die Abhandlungen über die Fabel scheiden sich übersichtlich ın fünf sauber getrennte Abschnitte. Der Reihe nach wird das Wesen der Fabel, der Gebrauch der Tiere, die Einteilung, der Vortrag, der didaktische Wert der Fabel vorgenommen. Die Gestalt der Abhandlungsreihe ist bedingt durch die logisch geordnete Abfolge der Gesichtspunkte. Sie soll nicht durch irgendwelche künstlerische Einkleidungsform verdeckt werden. Der ‚Laokoon‘ erweckt den Anschein eines freien Schwei- fens, will ausdrücklich bloß den Weg eines Spaziergängers einschlagen. Tatsächlich gewinnt er an Überredungskraft, indem er mit einem wirksamen Stimmungsakkord einsetzt, mit den Worten Winckel- manns über die Laokoongruppe und mit der Kritik dieser Worte, dann auf analytischer Bahn auf die entscheidenden Schläge vorbe- reitet und endlich den schon halbgewonnenen Leser durch die knappe und schlichte Formung einer Schlußfolge und durch deren lange Belegreihe scheinbar unwiderleglich überredet. Diesmal bestimmt. nicht der Inhalt, der vorzutragen ist, allein die Gestaltung. Sondern eine Architektonik wird gewählt, die von entscheidender Wirkung ist. Der „Laoköoon‘‘ hat wie man das nennt mehr „Form‘ als sonst ein Werk deutscher Geistesarbeit.

Bisher hatte Lessing nur durch das Lebendige seiner Wortkunst zu wirken gesucht. So behalten noch die Arbeiten von 1759 etwas vom beweglichen, übertemperamentvollen Stil des ‚„Vademekums‘. Jetzt ist Abklärung erreicht. Dem 17. Literaturbrief verwandt ist der Eingang der zweiten Abhandlung über die Fabel:

„Der größte Teil der Fabeln hat Tiere, und wohl noch geringere Geschöpfe, zu handelnden Personen. Was ist hiervon zu halten? Ist es eine wesentliche Eigenschaft der Fabel, daß die Tiere darin zu moralischen Wesen erhoben werden ? Istesein Handgriff, der dem Dichter die Erreichung seiner Absicht verkürzt und erleichtert ? Istesein Gebrauch, der eigentlich keinen ernstlichen Nutzen hat, den manaber, zu Ehren des ersten Erfinders, beibehält, weil er wenigstens schnackisch ist quod risum movet? Oder was ist es?“

Die betonte Überlebendigkeit verschwindet im „Laokoon“ und weicht scharfrechnender Dialektik, gleich in der ‚„Vorrede“.

„Die blendende Antithese des griechischen Voltaire, daß die Malerei eine stumme Poesie, und die Poesie eine redende Malerei sei, stand wohl in keinem

28 - Oskar Walzel.

Lehrbuche. Es war ein Einfall, wie Simonides mehrere hatte; dessen wahrer Teil so einleuchtend ist, daß man das Unbestimmte und Falsche, welches er mit sich führet, übersehen zu müssen glaubet.“

Die Kunst der Periodenbildun g hat eine Stufe erstiegen, die 1759

noch nicht erreicht ıst.

* * *

„Laokoon‘“ ist Bruchstück geblieben. Hätte Lessing das ganze Werk im Sinn einer Baukunst gestaltet, die eine wohlberechnete Form unter der Hülle zufälligen Nacheinanders birgt ? Die ‚Dramaturgie‘ kehrt ohne Bedenken zu der lockeren Aneinanderreihung zurück, die für Tagesschriftstellerei Lessing seit seinen Anfängen, ganz besonders in den „Briefen, die neueste Literatur betreffend‘ seit 1759 benutzt hatte. Besprechungen der Bühnenstücke, die der erste Versuch, ein deutsches Nationaltheater zu schaffen, die Hamburger „Entreprise‘, in der kurzen Zeit seiner Wirksamkeit vorführte, leiten rasch und zwanglos zur Erwägung der dramaturgischen Grundfragen. Je näher der Zusammenbruch des Hamburger Unternehmens kam, destoweniger band sich Lessing an die einzelne Aufführung und an ihren Tag. Ganze Reihen von Stücken der ‚Dramaturgie‘ dienen zuletzt theo- retischer Erwägung, ohne daß zwischen ihnen und dem Repertoire eine strenge Verbindung waltet.

Der erste und einzige Teil des „Laokoon“ hatte Homer gern als Zeugen angerufen. Daher steht das Epos hier im Vordergrund. Die geplante Fortsetzung wäre vielleicht dem Drama gerechter geworden. Die Ergebnisse des Briefwechsels mit Mendelssohn aus der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre endlich ausführlicher vorzutragen und zu begründen als ım 17. Literaturbrief, gestattete die „Dramaturgie“.

Immer noch steht im Mittelpunkt die Begriffsbestimmung der Tragödie nach Aristoteles. Das 77. Stück der „Dramaturgie‘ ver- deutscht die entscheidenden Wendungen dieser Definition: ‚Die Tragödie ist die Nachahmung einer Handlung, die nicht vermittelst der Erzählung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht die Reinigung dieser und dergleichen Leidenschaften bewirket.‘“

Vor kurzem meinte man, diese Verdeutschung mit einem Schlag zu erledigen, indem man mit Jakob Bernavs das Wort „katharsıs’“ nicht mit Reinigung, sondern mit Entladung übertrug, den Anreiz der Tragödie also in der lustvollen Entladung bedrückender Affekte suchte. Seitdem haben wieder minder Bernavsgläubige in dem Wort „Reinigung“ das erkennen wollen, was mit ‚„katharsis‘‘ eigentlich gemeint ist. Doch mag Lessing den ıhm kanonischen Aristoteles rich- tig verdeutscht haben oder nicht, von größerer Wichtigkeit ist, Lessings eigene Fassung des 0 aus seinem Überseizunes- versuch herauszuschälen.

Schrecken und Bewunderung sind hier ım Sinn der Briefe an Mendelssohn nicht mehr anzutreffen. Ist das Herstellung eines

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0,

Von ‚„Minna“ zur „Emilia“. 29

echtern Aristoteles, so fällt Lessing an anderer Stelle der Definition in die Falle, die ein falscher Text stellte. Das ‚sondern‘ der Wortfolge „nicht vermittelst der Erzählung, sondern vermittelst des Mitleids "und der Furcht‘ läßt sich nicht halten. Eine falsche Lesart verleitete Lessing zu der Annahme, daß Aristoteles von vornherein einen Gegen- satz zwischen Erzählung einerseits und Erweckung von Mitleid und Furcht anderseits angenommen habe. Mitleid und Furcht wären dann nur durch die dramatische Form, also durch die mimische Dar- stellung zu erzielen. Das mag auf den ersten Blick sinnlos erscheinen. Es gewinnt sofort einen berechtigten Sinn, wenn die Frage aufgeworfen wird, ob vielleicht durch mimische Vergegenwärtigung eine andere Art von Mitleiden erweckt wird als durch nichtmimischen Bericht. Spricht doch Lessing von einem Mitleid, das einzig und allein ‚durch die gegenwärtige Anschauung“ erregt wird. Tatsächlich erwirkt die mimische Darstellung der Bühne ein stärkeres Mitfühlen. Sie erleich- tert, was man Einfühlung nennt. Sie schafft, emotionaler wie sie ist, ein tieferes Miterleben. Tragödie erschiene somit als die Dichtungs- form, die fähig und bestimmt ist, am kräftigsten miterlebt zu wer- den; wie keine andere macht sie uns der Seelenstimmungen teilhaft, die ın den Menschen einer Dichtung bestehen.

Abermals verrät eine Anmerkung (zu Stück 74) das Entschei- dende und den eigentlichen Gewährsmann. Es ist Mendelssohn. Seine „Briefe über die Empfindungen‘ stellen fest, daß die Gestalten der großen Tragödie in uns den Wunsch wecken, alle Arten von Leiden mit ihnen zu teilen, „welches man sehr nachdrücklich Mitleiden nennt“. Mitleiden also, Mitfühlen, Miterleben, nicht Mitleid im geläufigen Sinn des Worts. Im 76. Stück erhärtet Lessing diese Deutung, indem er das tragische Mitleid ausdrücklich dem aristote- lischen Begriff der „Philantropie‘‘ entgegenstellt, dem ‚sympatheti- schen Gefühl der Menschlichkeit‘, wie er verdeutscht.

Mag das alles der eigentlichen Meinung des Aristoteles wider- sprechen oder nicht (Oswald Spengler glaubt die Ansichten des Aristo- teles wie der antiken Tragik völlig im Gegensatz zu Lessing fassen zu müssen), es sagt unzweideutig, was Lessing selbst unter Tragik ver- standen hat. Ihm ist die Tragödie künstlerische Höchstleistung auf dem Gebiet der Kunst, das Erleben anderer uns zugänglich zu machen, den Menschen die Möglichkeit und die Fähigkeit zu schenken, sich ın einem andern selbst zu erleben. Von diesem Standpunkt gewinnt Lessings frühes Bedürfnis, den bloß bewunderten Helden aus der Tragödie hinauszuweisen, den rechten Sinn. Nach Lessing dürfen wir, wir sollen zeitweilig meinen, Romeo zu sein oder Tasso, Kandau- les oder Rosmer, aber auch Ödipus oder Philoktet. Wenn das erreicht ist, wenn wir dergestalt uns selbst gesteigert erlebt haben, wenn wie die Briefe an Mendelssohn sagen wir eines höhern Grades unserer Realität uns bewußt geworden sind, dann kann unsere ganze Be-

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ziehung zu den Mitmenschen eine bessere werden. Als wir uns in Romeo und in den andern wiederfanden, ging uns die Fülle der Erleb- nismöglichkeiten auf, die auch uns offenstehen. Folglich wird uns auch im Leben verständlicher, verzeihlicher, mitfühlbarer, was andere durchmachen, tun, vielleicht verbrechen. Daher kann Lessing von einer „Reinigung dieser und dergleichen Leidenschaften“ reden und sie zum Endziel der Tragödie machen. Das ist nicht unkünstlerisches Bedürfnis, um jeden Preis eine versittlichende Wirkung der Tragödie zu erklügeln. Es meint einen schönen Lebensgewinn, den die Tragödie bringen kann, in weiterm Sinn freilich alle Diehtung. Aus dem Engen wird der Mensch ins Weite geführt, er gewinnt ein vertieftes Verständ- nis für die Welt.

Sicherlich steckt in dieser Auffassung viel vom Wesen der gesell- schaftlich denkenden, Menschen mit Menschen willig verknüpfenden Aufklärung. Als Francis Bacon den Zweck der Dichtung bestimmte. sprach er von der ‚„cultura anımı“ die von ihr erwirkt wird. Er meinte wesentlich die Fähigkeit, sich im Leben zu behaupten. Durch die Dichtung lernt der Mensch das Leben und dessen Gefahren kennen. Sie wappnet ihn zum Lebenskampf. So sah die Dinge ein Zeitgenosse Shakespeares. So sah man sie auch auf deutschem Boden bis ins Zeitalter der Aufklärung hinein. Dem Menschen den Menschen begreiflicher und nachfühlbarer zu machen, nicht die Mittel zum erfolgreichen Wettbewerb mit. den Mitmenschen zu bieten, ist nach Lessing eigentliche Aufgabe der Tragödie, dann, wenn auc h in gerin- germ Umfang, der Dichtung, der Kunst überhaupt,

Das ist vielleicht ganz unaristotelisch. Aber es führt zu der Folge- rung, die mit Aristoteles übereinstimmt, daß kein ganz guter und kein ganz schlechter Mensch tragischer Held sein solle, kein Märtyrer un«d kein Übermensch jenseit von gut und böse. Beide erschweren das Mit- erleben. Und noch an anderer wichtiger Stelle besteht ein fester Zusammenhang zwischen Lessing und Aristoteles. Er bietet den letzten entscheidenden Zug von Lessings tragischen Absichten.

Lessing huldigt Shakespeare auch in der „Dramaturgie“, so oft oder vielmehr so selten er ihn erwähnt. Nach einer Betrachtungsweise, die seit langem herrscht, ließe sich annehmen, daß er wie etwa Otto Ludwig aus Shakespeare die Überzeugung hole, die Tragödie solle Seelendrama sein, solle aus dem Charakter der Hauptgestalt die Tragik ableiten. Falsch wäre die umgekehrte Annahme, daß für Lessing die folgerichtige Auswirkung der Seelenanlage des Helden nichts bedeute. Gegen unfolgerichtige Zeichnung der "Menschenseele kämpft die „Dramaturgie“ fast immer, wo ein Stück Corneilles oder Voltaires in Frage kommt. Allein an keiner Stelle erblickt sie den Kernpunkt der Tragödie in der Seelenzeichnung. Um so unbedingter nennt das 38. Stück die „Verknüpfung der Begebenheiten“, die „synthesis“‘ der ‚„pragmata‘, mit ausdrücklichem Hinweis auf Äristo:

Von „Minna‘ zur ‚Emilia‘. 31

teles wesentliche Voraussetzung einer guten Tragödie. Aristoteles entscheidet sich im 6. Kapitel der ‚Poetik‘‘ allerdings völlig für die Verknüpfung und gegen die Charaktere. Ihm ist Tragödie nach- ahmende Darstellung nicht von Menschen, sondern von Handlung und Leben. Allein auch von Lessing aus wäre Schiller, als er die Reihe seiner späten Tragödien begann, zu der Art von Tragik gelangt, die er zuletzt vertritt. Lessings abwehrende Haltung gegen den Sturm und Drang wurzelt.hier. Die Anfänge des Sturm- und Drangdramas nimmt schon das Schlußstück der „Dramaturgie“ aufs Korn.

Mit Aristoteles verficht Lessing auch, daß die Tragödie folgerich- tiger und von fühlbarerer logischer Notwendigkeit des Ablaufs sein müsse als die Geschichte. Vielleicht kommt auch auf die Rechnung des Griechen, daß Lessing sich über Komödie nur hie und da äußert. Etwas eilig macht das 29. Stück sie zu einem Schutzmittel, das keine verzweifelten Krankheiten heilen, den Gesunden jedoch in seiner Ge- sundheit befestigen könne. Reicht Lessing hier an sein eigenes Werk, an „Minna‘“, heran, wenn er etwa immer noch von den „Charakteren redet, sie dabei doch wohl noch sals Typen faßt und sie zum ‚„Haupt- werk‘ der Komödie stempelt ?

Die Scheidung von Epos und Drama arbeitet mit Mitteln des „Laokoon‘“. Die sichtbare Kunst der Bühne darf nicht wagen, was der Erzähler verraten kann. Überhaupt entscheidet Lessing über Bühnenfragen gern nach dem Maßstab des ‚„Laokoon‘: Die Bühne wendet sich wie die „Malerei“ ans Auge. Sie ist nicht Malerei, so weit sie ein Nacheinander vorführt.

Das erste Stück der „Dramaturgie“ faßt schon ın wenige scharf- geschliffene Worte, was unumgänglich nötig ist, wenn eine Erzählung zu einem Drama werden soll. Sie kehren sich gegen einen der wenigen Mitbewerber um den Ruhm eines tragischen Dichters, die seit der „Sara“ sich auf deutschem Boden eingestellt hatten, gegen Joh. Friedrich Cronegk und gegen dessen schwaches Alexandrinerdrama „Olint und Sophronia“. Brawes wird nur flüchtig gedacht, Wielands Dramatik gar nicht erwähnt, „Richard III.“ von Freund Weiße ab- gelehnt. Die beiden Versuche, die wirklich weiterführten, Klopstocks „Hermannsschlacht“ und Gerstenbergs ‚„Ugolino‘“, sind nicht ge- nannt. Aber deutlich verwirft das Schlußstück die dramaturgischen Absichten, die, auf Shakespeare gestützt, Gerstenberg vorgetragen hatte und die bald im Sturm und Drang sich durchsetzen sollten. Gerade Shakespeares Drama hatte die „Dramaturgie“ gegen die „Iragedie classique‘‘ ausgespielt, gegen Corneille. Noch lieber gegen Voltaire. Es macht Lessing sichtlich Spaß, den Mann der Unredlich- keit zu bezichtigen, der ihn selbst unredlichen Gebarens bezichtigt hatte. Racine ist kaum berücksichtigt. Man wirft jetzt Lessing vor, er habe sich den Kampf gegen die klassischen Franzosen leicht gemacht, indem er ihren größten Tragiker beiseite schob. In diesem Kampf ge-

32 Oskar Walzel.

denkt Lessing auch der Einheitsregeln. Er äußert sich ein- und vor- sichtig genug, um später unzulänglichen Eintretens für volle Freiheit von Ort und Zeit beschuldigt werden zu können. Französische bürger- liche Tragik, die Richtung Diderots, billigt er um so eifriger. Ihr zu- liebe lobt er gern, was im französischen Lustspiel die bürgerliche Tragik vorbereitet, diesmal sogar Voltaire. Auch das deutsche Ge- folge des französischen Lustspiels beurteilt er zum guten Teil mit viel Schonung. Daß Moliere alles überragt, was nach ihm gekommen war, steht für Lessing fest. Über „Minna“ brauchte er nichts zu sagen, weil sie in Hamburg damals nicht aufgeführt worden ist.

* * R

Die „Dramaturgie‘‘ sollte anfangs nicht bloß von Bühnenstücken reden, auch von Bühnendarstellung. Bald mußte Lessing jedes Wort des Urteils über die Schauspieler aufgeben. Für spätere Welt ist es unbegreiflich, daß Lessing als Angestellter des Unternehmens zugleich dessen Kritiker sein durfte, um so begreiflicher, daß die Schauspieler sich von ihm nicht wollten bewerten lassen. Lessing wußte, daß unter ihnen die ersten Kräfte von damals sich befanden, voran Ekhof und die Hensel. So aus nächster Nähe hatte er große Schauspielkunst noch nie beobachten können. Zu den stärksten Erlebnissen eines Bühnendichters zählt, durch die Darsteller sein eigenes Werk kunst- voll über die Grenzen hinaus gesteigert zu erblicken, die er selbst, sicherlich alles eher als anspruchslos, im Auge gehabt hatte. Im 13. Stück berichtet Lessing von einem Zug, den seiner Sara die Darstelle- rin, Frau Hensel, geliehen hat. Er tut es mit dem frohen Staunen eines Menschen, dem ein unerwartetes schönes Geschenk zuteil wird. Sterbende fangen plötzlich an, mit den Fingern an ihren Kleidern und Betten zu rupfen. So starb die Hensel als Sara. „Das letzte Aufflattern eines erlöschenden Lichts, der jüngste Strahl einer unter- gehenden Sonne“ sagt Lessing. Er fügt hinzu: „Wer diese Feinheit in meiner Beschreibung nicht schön findet, der schiebe die Sache auf meine Beschreibung; aber er sehe sie einmal!“

„Emilia Galotti“ ist unter der starken Wirkung der Hamburger Bühneneindrücke und der Hamburger Schauspielkunst abgefaßt. Dem Gefühl erweist sich bald der gewaltige Fortschritt seit „Sara“. Aber auch seit „Minna‘“ ? „Sara“ und „Emilia“ lassen sich um so leichter aneinander messen, weil beide Stücke uralte Überlieferung, die längst schon dramatisch geformt worden war, ın das Gewand von Lessings Zeit hüllen. Dort Medea, hier Virginia, Virginius und der Dezemvir Appius Claudius. Ganz lessingisch ward zuerst vorlie- gende dramatische Bearbeitung geprüft, ein spanisches, ein englisches Drama von Virginias Leiden und Tod. Zur Zeit der Entstehung der „Sara“ faßt Lessing den Entschluß, die Geschichte Virginias von allem abzusondern, was sie für den ganzen Staat interessant macht,

Von ‚„Minna‘“ zur ‚Emilia‘. 33

und nur bei dem Schicksal einer Tochter zu verweilen, deren Tugend ıhrem Vater werter ist als ihr Leben und der sie daher ermordet. Als tragisch empfindet Lessing diesen Vorgang und als fähig, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch kein politischer Umsturz darauf folgt. Wie die „Sara“ aus dem Stoffgebiet der Medeendramen das Allgemeinmenschliche herausschält, so sollte es hier geschehen, zu- gleich ein bürgerliches, nicht ein geschichtliches Drama sich ergeben. VierzehnJahre später wird aus dem damals geplanten Dreiakter ein )rama von fünf Aufzügen.

Der vierte Aufzug führt wie in „Minna‘' eine neue Persön- lichkeit auf die Bühne. Während indes Riccaut wirklich nur Episoden- figur bleibt, lenkt die Orsina Licht auf sich, das die andern zu über- strahlen droht. Auch sie verschwindet zwar wie der französische Falsch- spieler im fünften Aufzug wieder von der Bühne. Allein keine Gestalt des Stückes hat so viel Bühnenblut wie sie, die fesselndste Frau, die von Lessing geschaffen worden ist. Große Darstellerinnen hat es ımmer wieder gelockt, das wechselvoll reiche Farbenspiel dieser dlämonischen Natur in Bühnenwirklichkeit umzusetzen. Ist die Rolle etwa für die Hensel geschrieben ? Das allzu Wuchtige, das man- cher der Hensel vorwarf (auch die ‚Dramaturgie‘ deutet es an), konnte ın der Orsina sich unbedenklich ausleben. Doch hieße es, l,essings Kunstwillen unterschätzen, suchte man den Ursprung der Or- sına bloß ın dem Wunsch, einer hochgeschätzten Schauspielerin die ıhr besonders taugliche Rolle zu bieten.

Sicherlich war Orsina durch die Stoffquelle nicht gegeben. Der Dezemvir Appius Claudius verfolgt bei Livius Virginia mit seiner liebe. Um die Unschuld der Tochter zu retten, tötet sie der Vater Virginius. Der Prinz, Emilia und Odoardo entsprechen den drei Menschen des Livius. Indem der Prinz zwischen die Orsina, die er ab- schütteln möchte, und Emilia tritt, zu der ıhn alles hindrängt, nimmt Lessing auf, was er schon in „Sara“ versucht hatte. Die Orsina ist eine kunstvolle Steigerung der neuen Medea Marwood. Emilia bleibt nicht die ganz Unzugängliche, wie die Quelle es meldet. Sie fühlt s:ch durch den Prinzen im Innersten erschüttert. Etwas lockt. sie zuihm hin. Noch ist sie weit entfernt, dem Schicksal Saras zu ver- fallen. Aber sie ahnt, daß ihr Widerstand nicht unbesiegbar sei. Um rein zu bleiben, fordert sie von ıhrem Vater, daß er sie töte: „Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut.“

Emilia weiß, daß der Prinz fähig wäre, sie zu verführen. Er ist. kein gewalttätig Rücksichtsloser wie Appius Claudius. Ein sinniger Kunstkenner, wahrt er auch im Leben eine feinfühlig liebenswürdige Haltung, die den Anschein der Willkür auch dort noch meidet, wo er seinem allzu willfährigen Helfer freie Bahn zu schlimmer Untat läßt; sie soll erzielen, was seine Sinne begehren. Klug und scharfsich-

GRM. XV. 8

34 Oskar Walzel.

tig, eine rechte Tochter der Aufklärung, erkennt Emilia die lockende Gefahr. Sie spricht sie in einem Augenblick des Affekts mit schärfster Prägung des Worts aus. Ihren künftigen Gatten hat der Prinz kurz vorher töten lassen, er hat mindestens den Anschein nicht gemieden, Ursache des Mords zu sein. Mag immer zwischen Appiani und Emilia kein Bund der Leidenschaft bestanden haben, es befremdet, daß Emilia in diesem Augenblick für ein Gefühl, das sie beherrscht, so ungemilderten Ausdruck bereit hat. Aber bewährt sie sich nicht da- durch als echte Tochter der Aufklärung ? Hier spricht ein Verstand, der weiß, daß er nur dann sittliches Handeln erreicht, wenn er dumpfes Empfinden zu höchster Verstandesklarheit steigert. Allein gerade in solcher unbedingter Erfüllung der Aufgaben des Aufklärers gesteht Emilia etwas zu, was dem verstandesfrohen Optimismus des Auf- klärers völlig widerspricht. Dieser Optimismus war doch immer über- zeugt gewesen, daß, wer das Rechte und Gute erkennt, auch recht und gut handeln müsse. Wäre doch unverständig, wer es nicht täte. Emilia gedenkt einer Macht, die stärker ist als alle Verstandeserwä- gung. Gegen sie schützt nur der Tod. Es ıst. die Macht des Triebhaften, des Irrationalen, die Macht, die bald ım Sturm und Drang die Herr- schaft an sich reißen und den Sittlichkeitsoptimismus der Aufklärung umstürzen sollte. Eine neue Welt kündigt sich an. Und ein neues Verhältnis zur Welt. Vielleicht hat der Vater der Aufklärung, hat Leibniz auch dem Dichter der „Emilia“ dies Neue aufgetan. Sein spätes Nachlaßwerk von 1765 die „Nouveaux Essais sur !’Entende- ment humain‘“, lehrten eine Zeit, die den gesunden Menschenverstand zum alleinseligmachenden Heilmittel machte, die Gewalt unbewußter Vorstellungen und dunkler Triebe über unsere Entschlüsse.

Nur indem Lessing seine Emilia zu der Schlußfolge hinführte, die ıırem Vater keinen andern Ausweg als die Erfüllung ihres Wunsches läßt, konnte er die vorgezeichnete Bahn einer bürgerlichen Virgina- tragödie bis zum Ende beschreiten. Den Dolch, mit dem das Werk vollbracht wird, kehrt Odoardo nicht gegen den Prinzen, wie die Orsina es gewünscht und gefordert hatte, als sie ihm den Dolch auf- drängte. Wäre wirklich ein Odoardo glaubhafter, der den Prinzen tötet ? Wäre das, gesehen vom Standpunkt des 18. Jahrhunderts, nicht vollends ein bloßer Theaterstreich? Das 18 Jahrhundert weist im Leben mehr als ein Vorbild des Prinzen; mag immerhin keine Virginiustat von der Geschichte des Zeitalters verzeichnet wer- den, noch. weniger berichtet sie von der Ermordung eines Fürsten durch einen Vater, dessen Tochter dieser Fürst verführt hatte, ge- schweige eines Fürsten, der nur solche Verführung plante und den Plan gut genug durchschauen ließ. Lessing wagt ohnedies, was damals noch keiner gewagt hatte: die Maitressenwirtschaft der Nachahmer Ludwigs XV. an den Pranger zu stellen. Während er auf der einen Seite die Staatsaktion des alten Stoffs von Virginia beseitigt, bietet

Von „Minna‘“ zur „Emilia“. 35

er zugleich eine Dichtung, die mit unerbittlicher Schärfe das Fürsten- tum des Zeitalters geißelt. Das deutete auf einen Umsturzwillen, der im 18. Jahrhundert nur noch von dem jungen Schiller überholt worden ist. Allerdings verrät es auch, wie beklagenswert tief unter der Höhe römischer Geschichte das Leben der Zeit Lessings stand, das ein großer Dichter in ein Kunstwerk wandeln konnte. Virginias Tod ist eine wichtige Tatsache der Geschichte Roms. Vorgänge der Art, die sich in „Emilia“ (auch in „Kabale und Liebe‘) spiegeln, hatten keine weltgeschichtliche Bedeutung.

Um jedoch innerhalb der engern Grenzen, die vom Zeitalter vor- geschrieben sind, ein rechtes Bild dieses Zeitalters der Willkür und seines Fürstentums zu geben, ist die Orsina unentbehrlich. Ebenso Marinelli. Durch die beiden gewinnt das Verhalten des Prinzen festere Züge und Odoardos Tat ihren wahren Sinn. Bühnengemäß offenbaren sie den ganzen Umfang des Schicksals, das der Tochter Odoardos droht. Mit so sicherer Beherrschung der Mittel gestaltet Lessing sein Trauerspiel, daß beide zugleich zu unentbehrlichen Stützen der vorwärtsschreitenden Handlung werden. Nur Marinellis diensteifrige Geriebenheit ermöglicht den raschen Gang der Handlung, die wie in „Minna‘ sich auf wenige Stunden beschränkt und auch im spar- samen Ortswechsel den Einheitsregeln der Franzosen entgegenkommt. Die Orsina ist vollends Voraussetzung des antithetischen Parallelismus, der die ganze symmetrische Baukunst der „Emilia“ bezeichnet und ıhır die großen, schlichten und zwingenden Linien bietet. Vom ersten Augenblick an stehen sich Emilia und die Orsina wie Thema und (1egenthema gegenüber. Die mächtige Episodenfigur des vierten Auf- zugs ist von Anfang an so gut vorbereitet, daß ihr spätes Auftreten nichts mehr von einer Überraschung an sich hat. Denn längst bedeutet sie viel für das Ganze. Zu zeigen, daß sie bis zuletzt in ihrem Gegensatz zu Emilia sich auswirkt, ist Odoardos Aufgabe. Er erfüllt die Aufgabe nicht bloß, indem er mit dem Dolch der Orsina die eigene Tochter tötet, nicht den Prinzen.

Nach der herben Härte der Sprache Lessings von 1759 hatte der Wortausdruck in ‚„Minna“ funkelnde Beweglichkeit gewonnen. Ab- eestuft ıst, wie die Menschen sich ausdrücken. Die Kultur des (ie- sprächs, die schon der Sächsischen Komödie sich da und dort ergeben hatte, ersteigt eine Höhe, deren scharfzugeschliffene Wortkunst nur einem spätern Jahrhundert von lässiger und lockerer Redeweise papieren, im Munde Franziskas gar unecht erscheinen kann. Formt sie doch im Wetteifer mit ihrer Herrin geistvolle Sinnsprüche. In „Emilia“ steigert sich das Epigrammatische noch. Unserm Gefühl widerspricht das ganz wie Emilias klug und scharfsinnig geformter Wortausdruck am Ende des Werks. Dafür umfaßt die Sprache des Stücks die ganze Weite, die zwischen den wahnwitzig blutdürstigen Racherufen der Orsina und dem skeptisch gesinnungslosen, mit Willen alles besudelnden Zynismus Marinellis liegt.

3%

36 John Koch.

4

Sir Walter Scotts Beziehungen zu Deutschland. I. Von Prof. Dr. John Koch in Berlin- Zehlendorf. (Nach einem in der Gesellsch. f. deutsche Philologie zu Berlin gehaltenen Vortrag.)

I.

Vom deutschen Einfluß bei dem großen schottischen Dichter ist schon öfters gehandelt worden, doch ist dies teils zerstreut in Be- schreibungen scines Lebens geschehen!, teils in Schrilten, die gleich- zeitig Werke anderer in Betracht ziehen?, teils in Abhandlungen, welche sich nur mit einzelnen seiner Dichtungen beschäftigen? Es verlohnt sich daher wohl, alles, was vonScotts Beziehungen zu Deutsch- land: seine persönlichen Berührungen, seine Kenntnis der Sprache und Literatur, seine Übertragungen und Nachahmungen, seine Auf- fassung des deutschen Wesens, bekannt ist, einmal übersichtlich zu- sammenzustellen und bisher Übersehenes nachzutragen, wobei aller- dings des Zusammenhangs wegen sich Wiederholungen aus früheren Darstellungen nicht vermeiden lassen.

Die erste Kunde von der Bedeutung der deutschen Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts brachte Henry Mackenzie, der Verfasser des einst viel gelesenen sentimental-moralischen Romans ‘The Man. of Feeling’, in einem Vortrag, den er 1788 in Edinburg in der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften über das damalige deutsche Theater hielt. Bezeichnenderweise verstand er selbst nicht deutsch, sondern stützte sich in seinen Ausführungen auf französische Über- setzungen der neuesten dramatischen Schöpfungen Deutschlands, wobei er namentlich Schillers „Räuber“ anerkennend hervorhob. Die Wirkung dieses Vortrags ging in weitere Kreise über, man begann sich mehr mit unserem Schrifttum zu beschäftigen, und es entstanden Übersetzungen der „Räuber“ (von A. F. Tytler, sp. Lord Woodouselee,

ı 3.G. Lockhart, Memoirs of the Life of Sir Walter Scott, Edinburgh 1845 (in einem Bde.); Sir Walter Scott von K. Elze, Dresd. 1864, The Journal of Sir Walter Scott, Edinb. 1890; Letters and Recollections of Sir W. Scott by Mrs. Hughes,ed.by H. G. Hutchinson, Lond. 1904 u.a.

®2 A. Brandl, Die Aufnahme von Goethes Jugendwerken in köngland. tioethe-Jahrbuch 111, 27ff.; Th. Süpfle, Beiträge zur Gesch. d. dtsch. Literatur in England im letzten Drittel des 18. Jahrh., Zeitschr. f. vgl. Litgesch. 6, 305 ff.: Marg. Ball, Sir W. Scott as a Gritic of Literature, N.-York 1907; E. Koeppel, Deutsche Strömungen in d. engl. Literatur, Straßb. 1910: O. L. Emerron, The Karly Literary Life of Sir W. Scott, Journ. Engl. Germ. Phil. XAIIL, 28ff. (un- bekannt mit dtsch. Forschung). F. Soemmerkamp, W. Scotts Kenntnis und Ansicht von deutscher Literatur, Archiv 148, S. 196—206: eine dankenswerte Übersicht, auf die Herr Geh. Rat Brandl mit freundlichst hinwies.

®>S.K. Roesel, Die literarischen Beziehungen Sir W. Scotts zu Goethe. Leipz. Diss. 1901; H. L. Lorenzen, Scotts Peveril of the Peak, Kieler Diss. 1912: P. Warnstedt, Entstehungsgesch. u. Quellen z. W. Scotts Tales of the Grusa- ders, Leipz. Diss. 1918 u. a.

Sir Walter Scotts Beziehungen zu Deutschland. 1. 37

1792) und Bürgers ‘Leonore’ (von Wm. Taylor u. a.). Gefördert wurde diese Richtung durch den in dieser Zeit auch in England herrschenden Geschmack an allem Mittelalterlichen, Abenteuerlichen und Schau- rigen, der durch Romane wie ‘The Castle of Otranto’ von Horace Wal- pole, Clara Reeves ‘Old Englisch Baron’ und Ann Radkcliffes ‘The ‚Mysteries of Udolpho’ genährt worden war. So fanden sich im Jahre 1792 ın Edinburg mehrere junge Leute, Freunde Walter Scotts, zu- sammen, um gemeinsam einen Zirkel zur Erlernung der deutschen Sprache zu bilden, worüber letzterer in seinem ‘Essay on Imitations of Ihe Ancient Ballad’ in humoristischem Tone ausführlich berichtet!. Ihr Lehrer war ein Dr. Willich, ein deutscher Arzt, der seinem Unter- richt Geßners sentimentales Epos ‘Der Tod Abels’ zugrunde legen wollte, womit er aber keinen Anklang bei seinen Schülern fand, die vielmehr für Kant und die Jugenddichtungen Goethes und Schillers schwärmten. Scott selbst, wie er eingesteht, war zu träge, um sich mit den grammatischen Regeln abzumühen, sondern glaubte, mit Hilfe der Kenntnis des schottischen Dialekts und des Aneelsächsischen []? ın das Verständnis der deutschen Sprache eindringen zu können, erregte aber durch die Fehler, die er bei den Übungen beging, öfters die Heiterkeit seiner Kameraden. Wenn er auch später seine deutschen Sprachstudien fortsetzte, hat er doch nie die Unsicherheit in der (irundlage überwinden können was Beispiele im folgenden genug- sam belegen werden?.

Den Anstoß, sich an eine Übersetzung aus dem Deutschen heran- zuwagen, erhielt Scott mittelbar durch eine Miß Aikin, die im Sommer 1794 die schon erwähnte, doch bis dahin noch ungedruckte Bearbei- tung Wm. Taylors von Bürgers ‘Lenore’ ın einer Privatgesellschaft vortrug und damit helle Begeisterung erregte. Scott selbst war nicht zugegen, doch der Bericht hierüber erweckte ın ıhm den Wunsch, das Original kennen zu lernen. Die Freundlichkeit einer deutschen Dame, der Tochter des sächsischen Gesandten ın London, Grafen Brühl, die mit einem seiner Verwandten, Hugh Scott of Harden, ver- mählt war, verschaffte ihm bald Bürgers Werke und später die noch anderer deutscher Autoren, wie er auch Adelungs Wörterbuch durch

! Siehe I, S. 263 ff. der Pocket Kdition, Edinb. 1875, nach der ich auch im folgenden zitiere.

2 Es ist fraglich (jener Essay stammt erst aus d. J. 1830), ob Scott damals mehr davon wußte, als in Georg Wachters Glossarium Germanicum, 1737, das in seinem Besitze war, darüber stand CGonybeares Veröffentlichungen über diesen tiegenstand erschienen erst 181’. Vermutlich verstand Scott unter Änglo-Saxon die ältere Sprache, die wir jetzt mittelenglisch nennen. C. Ball,l. cc. 8. 2.

® Im Journ. 1, S. 137 ‚berichtet Scott, daß er in seiner Jugend -— freilich fruchtlos —- Zeichenunterricht von einem Juden Burrell, einem Preußen, erhielt, der ihm viel von den Schlachten Friedrichs des Großen erzählte, aber es ist zweifel- haft, ob sein Verkehr mit diesem Manne einen dauernden Einfluß auf seine Deutschkenntnis ausübte.

38 John Koch.

Vermittlung eines deutschen Mönchs erhielt!. Vom Schwung jener Ballade hingerissen, machte Scott sich sofort an die Übersetzung und vollendete sie über Nacht: sein erster dichterischer Versuch. Das Gedicht, ‘William and Helen’ betitelt, gefiel seinen Freunden und so übertrug er auch Bürgers “Wilden Jäger’, ursprünglich ‘The Chase’ benannt, die im Jahre 1796 zusammen in einem dünnen Quartheft gedruckt erschienen, doch fand diese seine erste Veröffentlichung nur wenig Beachtung. Desselben Dichters ‘Lied von Treue’, das Scott unter dem Titel ‘Triumph of Constancy’ ım Schmerz um den Treu- bruch seiner Geliebten um diese Zeit übertrug, ist dagegen nie gedruckt worden.

Indessen entmutigte jener MißBerfolg den jungen Dichter nicht, mit der Übersetzung deutscher Schöpfungen fortzufahren wenn wir hier von seinen ersten Versuchen in der Balladendichtung, zu der ihn Bürger angeregt hatte, absehen —, und so übertrug er Goethes ‘Erlkönig’?, die in ‘Claudine von Villa Bella’ eingeschaltete Ballade vom ungetreuen Knaben und den ‘Klaggesang der edeln Frauen des Asan Aga’, welch letzterer jedoch erst kürzlich veröffentlicht worden ist?. Dann ging Scott zum Drama über und übersetzte 1796/97 Ifflands „Pie Mündel“, Jacob Maiers ‚„Fust von Stromberg‘ und des Ritters Karl Franz Guoldinger von Steinsberg ‘Otto von Wittelsbach’, doch sind diese Arbeiten ungedruckt geblieben, sollen aber nach einer Note des Herausgebers der von mir benutzten Ausgabe noch hand- schriftlich ın Abbotsford vorhanden sein. Nach seinem früheren Tage-

ı S. Lockhart, 1. ce. S. 56, 66/7 ete.

2 4797. Erst in den nach Seotts Tode erschienenen Auflagen seiner Werke gedruckt. |

3 Von Rev. W. S. Grockett im ‘Scotsman’ 9, TI, 1924 (mir nicht zugänglich); fernere Notizen s. Emerson, 1. c. 8. 417.

° Obwohl wir also nicht wissen, wie Scott diese Dramen behandelt hat, dürfte es doch nicht ohne Interesse sein, etwas Näheres über diese heute ver- schollenen Stücke zu erfahren. Ifflands Werk ist ein Saktigres Schauspiel, ein bürgerliches Rührstück, in dem ein heuchlerischer Kanzler zwei Brüder, die Mündel, zu seinem Vorteil zu entzweien sucht, schließlich aber entlarvt wird, worauf sich die Brüder versöhnen. Jacob Maier, Hofgerichtsrat in München, schrieb „zwey Schauspiele aus der Pfälzischen Geschichte‘, 1. Der Sturm von Boxberg, 2. Fust von Stromberg (Mannheim 1785). Beide sind Ritterstücke, das letztere: „Ein Schauspiel in 5 Aufzügen. Mit den Sitten, Gebräuchen und Itechten seines Jahrhunderts.“ Es ist hauptsächlich gegen pfäffische Ilabsucht und Heuchelei (hier durch einen Klostervogt vertreten) gerichtet und ist von 144 Seiten füllenden Anmerkungen historischen und kulturgeschichtlichen Inhalts begleitet, die im Sinne der Aufklärung öfters humoristisch-satirisch geschrieben sind: eine Beigabe, die vielleicht das Vorbild zu Scotts eigenen Erläuterungen zu seinen Dichtungen geworden ist. Wenn Lockhartl.e. als Titel ‘Wolfred of Drom- berg’ angibt, so ist ersteres richtig: der IIeld des Stückes heißt vollständig Wolfred Fust, letzteres natürlich in Stromberg zu korrigieren. Den Ausdruck ‚ba(h)rrecht‘ (vgl. bahr-geist Betrothed, Kap. XV) hat Scott hier von S. 71f. entlehnt. „Otto von Wittelsbach, Pfalzgraf ın Bayern“. Aufgeführt auf dem kurfürst-

Sir Walter Scotts Beziehungen zu Deutschland. 1. 39

buche las Scott im Sommer 1797 Lessings ‘Nathan’ und Gersten- bergs ‘Braut’!, eine Übersetzung von Beaumont und Fletchers “Maids Tragedy’, nebst kritischen und biographischen Abhandlungen 1765 erschienen, ein Trauerspiel unerquicklichen Inhalts und mit blut- triefendem Ausgange. Inzwischen waren seine deutschen Studien durch seinen Freund James Skene, der sich mehrere Jahre in Sachsen aufgehalten hatte, gefördert worden. Er war es auch, der 1798, als auf Scotts reges Betreiben sich ein freiwilliges Reiterregiment (dessen Quartiermeister dieser wurde) zur Abwehr des befürchteten Einfalls der Franzosen in Edinburg gebildet hatte, durch den Vortrag von Ch. D. Schubarts ‘Kaplied’: „Auf, auf! ihr Brüder, und seid stark usw.“ unserm Dichter zum ‘War Song’ der ‘Light Dragoons’ begeisterte”. Wehmütig ist es dann zu sehen, daß dessen folgende Worte: ‘Der Abschiedstag ıst da, Schwer liegt es auf der Seele (Scott, schrieb ‘dem Herzen’), schwer’ noch in Scotts Gedächtnis hafteten, als er sich im Maı 1826 von seiner schwer kranken Gattin (sie starb bald darauf), um seine Amtspflicht in Edinburg zu erfüllen, trennen mußte und diese Zeilen schmerzlich in sein Tagebuch eintrug.

Um die in Rede stehende Zeit (1798) kam Matthew Lewis, eın frühreifes Genie, der bereits 19jährig durch seinen Sensationsroman ‘Ambrosio or the Monk’ (daher sein Spitzname Monk Lewis) und später durch sein Schauerdrama ‘The Castle Spectre' ein weitgchendes Auf- sehen erregt hatte und der Löwe der englischen Gesellschaft geworden war, nach Edinburg. Scott, obgleich um 4 Jahre älter, sah es daher für eine Ehre an, mit ihm bekannt zu werden, und so wirkte Lewis auch anregend auf seines neuen Freundes weitere dichterische Tätig- keit ein?. Er hatte sich schon 1792 in Weimar aufgehalten und Goethe kennen gelernt, war auch kurze Zeit in Berlin gewesen und hatte sich gründlichere Kenntnisse im Deutschen erworben, als sie Scott besaß. So übersetzte er Schillers ‘'Kabale und Liebe’ unter dem Titel ‘The Minister’ und ebenfalls Goethes ‘Erlkönig’ u. a. ins Englische. Da er ein feineres Ohr für Verse hatte, machte er seinen unmusikalischen Schüler unbarmherzig auf seine mangelhaften Reime, indes mit nur

lichen Nationaltheater, lautet der Titel der ‚neuesten Auflage‘ von 1801, doch veschrieben wurde dieses echt bayerische Drama zu München im Jahre 1781. Der ungenannte Verfasser ist Joseph Marius (v.) Babo, sp. Theater-Kommissar und Intendant in München. Aber auch der obige Name ist richtig: im Druck des Stücks von 1783 (Berlin) wird dem Titel hinzugefügt: Fürs Theater eingerichtet von R. v. Steinsberg, und diese Ausgabe hat offenbar Scott vorgelegen. Das Original ist hier wesentlich gekürzt, der Ill. Akt bei Babo in zwei (Ill und IV) zerlegt, dagegen Akt IV und V jenes in einen (V) zusammengezogen und der öfters rührselige Ton Babos männlicher geworden. Übrigens galt dies Trauerspiel als eines der besten der Zeit.

% 8. Lockhart, I. c. S. 73 (dort Geutenberg st. Gerstenberg).

2 S. Lockhart, I. c. S. 81/2 und Journ. I, S. 190.

® 8. Essay etc., S. 265 f. und 281.

40 John Koch.

mäßigem Erfolg, aufmerksam. Trotzdem lud er Scott zu Beiträgen

zu einer von ihm geplanten Sammlung ein, die unter dem Titel ‘Tales

of Terror’, nachmals in “Tales of Wonder’ geändert, erscheinen sollte, die aber erst 1801 herauskam!. Scott lieferte ihm dazu einige Balladen, die er selbst nach heimischen Stoffen verfaßt hatte, darunter auch “The Fire- King’, welche in seinen Werken unter den aus dem Deutschen übertragenen Stücken steht, die aber offenbar auf eigener Erfindung beruht, obwohl auch Lewis, der ihn zu diesem Gedicht veranlaßt hatte, merkwürdigerweise darauf Anspruch zu erheben scheint.

Mittlerweile hatte Scott Goethes ‘Götz von Berlichingen’, aller- dings mit manchen Fehlern (worüber später ein Näheres) behaftet, übersetzt (1799), wofür ihm Lewis einen Verleger verschaffte, doch hatte dieses Werk ebensowenig Erfolg wie seine erste Veröffent- lichung. Es war nämlich inzwischen ein Umschwung im Geschmack des englischen Publikums eingetreten, das genug von der Germun diablerie hatte, die sich besonders in den zahlreichen Räuber- und Ritterromanen breit machte, hierin von der von Canning und Frere verfaßten Parodie auf Schillers Räuber und andern Satiren beeinflußt. Um diese Zeit dürfte auch Scotts Übersetzung von Schillers ‘Fiesco’ entstanden sein, die er in einem Briefe an Mrs. Hughes (Sept. 1827)? erwähnt, als er ihr seinen Götz, dessen Mängel er dabei anerkennt, zusandte. Er fügte hinzu, daß er beim Vorlesen dieser Jugendarbeit, deren Original er sublime nennt, seine Zuhörer jedes mal zu Tränen gerührt habe. In einem späteren Briefe (Dez. 1827) bedauert er, daß das Ms. des Fiesco verloren sei, daß er ihr aber auf Wunsch gern alle andern Übersetzungen aus der Zeit, da er German mad war, schicken wolle.

Zu diesen gehört sein House of Aspen’, wie er seine Bearbeitung von Veit Webers (Pseudonym für Leonhard Wächter) Drama ‚Die heilige Vehme‘‘ betitelt, das infolge jener Mißstimmung für Schöp- fungen . dieser Art lange Zert ungedruckt blieb und erst 1829 ım "Keepsake’ erschien? Auch eine vom berühmten Schauspieler Kemble ın Aussicht genommene Aufführung dieses Stückes mußte unter solchen Bedenken unterbleiben. Die reiferen Werke unserer großen Dramendichter blieben dagegen ın England lange so gut wie un- bekannt, und selbst Coleridges treffliche Übertragung von Schillers „»W allenstein“ die Scott höher als das Original schätzte®, hatte keinen

Ungeduldig über diese lange Verzögerung, gab Scott 1799 allein eine Sammlung von eigenen und anderen Gedichten unter dem Titel Apology for Tales of Terror” heraus (S. Emerson, 1. ec. S. A8f.).

? S. Letters and Rerollections etc. S. 222 und 224.

? S. sein ‘Advertisement’ zu diesem Drama VI, 351: er gibt dort seine (Quelle (Sagen der Vorzeit, Bd. VI Zofingen 1792) richtig an, schreibt aber Der Heilige V. und stets Beit statt Veit. In der Fußnote nennt er den Verfasser ieorg Wachter, wohl in Verwechslung mit dem Autor des vorhin zitierten Glossa- ums. Eingehendere Angaben über das ‘House of Aspen’ s. u.

° S. Lockhart, 1. c. S. 380.

Sir Walter Scotts Beziehungen zu Deutschland. I. 41

dauernden Erfolg. Nur Kotzebues leichtere Ware, die derselbe ‘wret- ched’ nannte, behauptete sich auf Londoner Bühnen.

Unter solchen Umständen ließ auch Scott seine deutschen Studien einstweilen ruhen und wandte sich der heimischen Balladendichtung zu, die seinem Herzen näher lag. Bei seiner Ausgabe der von ihm gesammelten ‘Minstrelsy of the Scottish Border (1802/03)’ schwebte ihm neben anderen Werken dieser Art vor allem Percys Reliques of Ancient Poetry’ vor; doch kannte er auch Herders ‘Volkslieder’, aus denen er in einer Note (C) zu dem erwähnten Essay ein paar Stellen anführt (aus ‘Der Schiffer’ und ‘Der eifersüchtige König’), um zu zeigen, wie leicht sıch der schottische Urtext ins Deutsche übertragen lasse.

Bei seiner Ausgabe des ‘Sir Tristrem’ diente ihm ein junger deutscher Gelehrter Heinrich Weber, der sich nachmals durch eigene wissenschaftliche Arbeiten auszeichnete (‘Ancient Metrical Ro- mances’ und eine Ausgabe von Beaumont und Fletchers Dramen u.a.) als Amanuensis oder Sekretär. -Scott erkannte seine vorzügliche Be- gabung und sein reichhaltiges Wissen lobend an!, ebenso sein treff- liches und liebevolles Wesen. Leider verfiel Weber, wohl infolge seiner Neigung zu starken Getränken, allmählich ın geistige Umnachtung und starb schließlich in einem Irrenhaus (1814). Welche Anregung oder Belehrung Scott ihm verdankt, läßt sich ım einzelnen nicht nach- weisen. Gewiß wird Weber aber ihm die Bekanntschaft mit der älteren deutschen Literatur und deren Verständnis vermittelt haben?. Denn zu den von Weber 1814 herausgegebenen ‘/Illustrations of Northern Antiquities’, die eine Übersicht über die ahd. und mhd. Dichtung nebst Inhaltsangaben und Versproben aus dem sog. Heldenbuche, den Nibe- lungen und dem Hildebrandliede von ihm selbst und eine Abhandlung iiber Romantic Ballads nebst Übersetzung von meist altdänischen Texten in die schottische Mundart von R. Jamiceson brachten, hat. Scott einen ‘Abstract’ der isl. Eyrbygga-Saga beigetragen, mußte also auch wohl den übrigen Inhalt des Buches kennen. Die Vermutung Lockharts, daß von ihm auch die metr. Übertragungen von Stellen aus den Nibl. stammen, ist jedoch unwahrscheinlich, wie wir weiter unten sehen werden. Ferner wird Scott den Inhalt der Sammlung deutscher Volkslieder v. d. Hagens und Büschings, die er in seiner Einleitung zum Edlen Moringer (s. u.) als seine Quelle anführt, ge- kannt haben. Aber einen bleibenden Eindruck hat diese Bekannt- schaft auf ihn nicht ausgeübt, da er in seinen späteren Werken aui die genannten Erscheinungen nicht wieder zurückkommt; nur erinnert. ın den ‘I/ntroducitory Remarks on Popular Poetry’ (1, S. 231), die ırrıge Herleitung des engl. minstrel vom deutschen minne-singer® an seine literarischen Studien.

! S. Journ. I, 149. 2 Vgl. Soemmerkamp,l.c. 8. 199 ff. 3 Das gesprochene End-e in deutschen Wörtern bezeichnet 8. öfters mit Akut.

42 John Koch.

Die eigentliche dichterische Laufbahn Scotis begann 1805 mit der Veröffentlichung des ‘Lay of the Last Minstrel’, dem eine lange Reihe ebenso erfolgreicher romantischer Verserzählungen folgte. Da deren Stoffe vaterländischen Ursprungs sind und die Handlung in Schottland oder England lokalisiert wird, ist in ihnen so gut wie nichts von deutschem Einfluß zu spüren, obwohl einige einen solchen erkennen wollen!. Man könnte höchstens eine Stelle in jenem Lay (IV, Str. 18) dafür anführen, worin eine Schar deutscher Söldner be- schrieben wird. Indessen hat sich Scott auch während dieses Jahr- zehnts gelegentlich mit deutschen Schriftwerken beschäftigt, wenn sich dies im einzelnen auch nicht genau feststellen läßt; vielmehr werden die Früchte dieser Lektüre sich erst in späteren Äußerungen erkennen lassen. | |

Etwas anders verhält es sich mit. Scotts zahlreichen Prosaromanen, deren erster “Waverley’ bekanntlich 1814 erschien; zwar sind auch diese im wesentlichen originelle Schöpfungen und haben mit deutschen Verhältnissen bis auf wenige Fälle nichts zu tun. Aber es finden sich doch in einigen Nachklänge und Anlehnungen an deutsche Autoren, wie er auch ein paar Gestalten geschaffen hat, die Deutsche darstellen sollen. Wollte man indessen die Besprechung dieser Stellen lediglich nach dem Erscheinungsjahre der betreffenden Romane anordnen, so würde dies ein zu verworrenes Bild des deutschen Einflusses auf Scott abgeben, sodaß wir besser diese Betrachtung verschieben, bis wir eine vollständige Vorstellung von Scotts Beziehungen zu unserem Vater- lande und unseren Landsleuten gewonnen haben. Nur ein Punkt sei vorweg genommen: sollte man vermuten, daß aus der Entlehnung gewisser Züge in ‘Peveril of the Peak’ aus Goethes ‘Wilhelm Meisters Lehrjahren’ (wovon später) dieser Roman das Vorbild für Scotts eigene Schöpfungen gewesen sei, so wäre darauf zu verweisen, daß außer der Einschaltung von Liedern und Gedichten in den Text sonst keinerlei Ähnlichkeit zwischen beiden besteht. Vielmehr zeigt sich die letztere Eigenart auch in den schon erwähnten Romanen von Mrs. Ratcliffe und Mat Lewis, die außerdem wie er ihren Kapiteln poetische Mottos voranstellen, ganz abgesehen davon, daß deren Neigung zur Darstellung schauerlicher Szenen und unheimlicher Ge- stalten bei ihm, wiewohl zurückgedrängt durch größere Lebenswahr- heit, geschichtliche Treue und öfters durch trefilichen Humor, wieder- kehrt. |

Nach langer Pause wandte Scott sich wieder der Übersetzung deutscher Gedichte zu, und zwar wählte er balladenartige Texte aus dem späten Mittelalter; das von Tschudi überlieferte Lied von der Sempacher Schlacht, das in englischem Gewande 1818 ın ‘Black-

ı S. Brandl, 1. c. S. 68ff. und Rösel, 1. c. 7A ff. 2 Vgl. hierüber Dibelius, Englische Romankunst, Bln. 1910, II, 126f., 1501Tf.

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Sir Walter Scotts Beziehungen zu Deutschland. I. 43

Moringer, dessen Übertragung, während einer schmerzhaften Krank- heit verfaßt, 1819 im ‘Edinburgh Annual Register (für 1816)’ veröffent- licht wurde. Wie er sich dieser Aufgaben erledigte, werden wir später sehen.

Inzwischen hatte Scott die kriegerischen Vorgänge auf dem Fest- lande lebhaft verfolgt!, und als die Schlacht bei Waterloo geschlagen war, eilte er auf den Kriegsschauplatz hinüber. In seinen pseudonym veröffentlichten ‘Paul’s Letters to his Kinsfolk’ (1816) beschreibt er anschaulich die Eindrücke, die er auf dem Schlachtfelde (wo er es nicht unterließ, einige ‘souvenirs’ für seine Raritätensammlung zu erwerben), auf der Fahrt nach Paris und bei seinem Aufenthalte daselbst empfing. Er hatte dabei Gelegenheit, preußische Soldaten zu beobachten?, und schildert sie wohl als plünderungssüchtig und gefräßig, doch sonst als gutmütig und freundlich in ihrem Verhalten zu den Einwohnern. Fast alle Offiziere sollen einem geheimen Bunde (The Order of Faith and Honour: Tugendbund ?) angehören? Nähere Bekanntschaft mit einzelnen Leuten scheint Scott nicht angeknüpft zu haben doch hatte er die Ehre, dem alten Blücher, den er hoch schätzte, persönlich vorgestellt zu werden, der mehr Anteil für ihn bewies als sonst ein fremdländischer Heerführer mit Ausnahme des Kosakenhetmans Platoff, der ihn auf offener Straße abküßte.

Im Jahre 1818 erhielt Scott zum ersten Male persönliche Nach- richt von Goethe durch seinen nachmaligen Schwiegersohn und Bio- graphen Lockhart, der den „Herrn Geh. Rat‘ in Weirar gesehen hatte und ihm dessen majestätische Erscheinung beschrieb. In dem (sespräch, das sich an diesen Bericht knüpfte, und in dem die deutsche Literatur berührt wurde, nannte Scott den deutschen Dichter ‘hıs old master’. Bald darauf las er den Faust, soweit er damals erschienen war, vollständig und sprach sich zu Lockhart begeistert über die lyrıschen Stellen, das Pathos und die feine Charakteristik einiger Szenen aus, setzte aber hinzu “that nobody but a German would have provoked a comparison with the book of Job, the grandest poem that ever was written‘. Später äußerte Scott, daß er Goethes Auffassung des Me- phistopheles für treffender halte als die Byrons und die von Miltons Satan°. Sehr erfreut war er, als sein Freund Terry, der Direktor des Londoner Adelphiı-Theaters, ihm die englische Ausgabe von Retzschs "Umrissen zu Faust’ sandte®,.

I S. auch seine schwungvollen Dichtungen ‘The Vision of Don Roderick’ und "The Field of Waterloo’.

2 S. Paul’s Letters $. 275, 288 1f., 381ff. und Lockhart, 1. c. S. 319.

3 S. Letters S. 386. Gelegentlich schaltet S. deutsche Wörter in seinen Text ein: „landwehr, landsturm‘‘ „halt maul“ (!) „Rauchen Sie immer fort, verdammt sey der preußische Dienst‘ etc. Die von ihm ebd. erwähnte Schrift „Pflichten der Unterthanen‘“ widerspricht jedoch seiner Auffassung von bürger- }icher Freiheit. * S. Lockhart,l. c. S. 367. 5 S. Quentin Durward, Introd. S.%. ° 8. Lockhart, 1. ce. S. 49%.

4 John Koch.

Andererseits ist Goethes Urteil über den schottischen Dichter, wie es aus seinenGesprächen hervorgeht! nicht durchweg anerkennend. So sagte er einmal, daß Scott wohl amüsiere, daß man aber nichts aus ihm lernen könne. Bei andern wenig freundlichen Äußerungen ist jedoch einzuwenden, daß Goethe über Scotts Verhältnisse nicht richtig unterrichtet war. In direkte Beziehung traten indessen die beiden Dichter erst 1827 im Anschluß an einen Besuch eines Freundes von Scott, Sir John Hopes, in Weimar. Darauf schrieb Goethe im Januar dieses Jahres einen liebenswürdigen Brief, in dem er Scott seiner Hochschätzung versicherte, ihm für die Übersetzung einiger seiner Werke dankte und ihn um eine wohlwollende Gegenäußerung bat’?. Scott war stolz auf den Empfang dieses Briefes, mußte ihn aber sich vorlesen lassen, da er die deutsche Schrift vergessen hatte. Im Tage- buch? bemerkt er dazu, daß Goethe unzweifelhaft (at once) der Ärıokt und beinahe der Voltaire Deutschlands sei: mit welchem Vergleich er jedoch der wahren Bedeutung unseres großen Dichters kaum gerecht wird. Erst im Juli konnte Scott ihm antworten, da inzwischen sich keine Gelegenheit bot, den Brief durch einen Landsmann befördern zu lassen. Er dankte darin Goethe herzlich, daß er einige seiner Schriften der Beachtung wert gehalten habe, bedauerte die Febler seiner Übersetzungen und schloß mit Nachrichten über seine Lebens- weise. Als Widmung fügte er ein Exemplar seines eben erschienenen Werkes “The Life of Napoleon Bonaparte’ bei. Für diese Gabe dankte Goethe nicht direkt, sondern in einem Briefe an Thomas Carlyle, dem er einige Medaillen mit seinem Bildnisse beifügte, von denen zwei für Scott bestimmt waren? Er sagt darin, daß er das ihm übersandte Werk mit großem Interesse gelesen habe und verspricht, darüber ım gleichen Sinne in der Zeitschrift „Kunst und Alterthum‘“ zu berichten was er auch ausführte. Carlyle schickte Scott, der sich gerade in London aufhielt, eine Abschrift dieses Briefes nebst den Medaillen, von einigen freundlichen Zeilen begleitet, im Aprıl 1828 zu, worauf dieser merkwürdiger Weise gar nicht geantwortet zu haben scheint. Wenig- stens findet sich kein entsprechender Vermerk ın seinem Tagebuche.

Anschließend an diese Lebensbeschreibung Napoleons, zu dem er natürlich auch deutsche Quellen benutzte®, sei bemerkt, daß Scott mehrmals Gelegenheit nimmt, sich darın anerkennend über die Deutschen auszusprechen; so Bd. VI, 248ff., wo er von der patrio- tischen Bewegung in den Unglücksjahren 1807/09, die an den Uni- versitäten von den „Burschenschafts‘‘ ( ?)6 getragen wurde, handelte;

ıS. Roesel, l. ec. S. 521f.

2 S. Lockhart, 1. ce. S. 655f.

3 Journ. I, S. 359.

° S. Journal, Appendix, S. 483 ff.

5 Nach Sommerkamp ]. ce. die Sehriften ven Fr. v. Gentz, v. Müffhing und Varnhagen v. Ense.

© Ungenau. Die Burschenschaften entstanden erst nach den Freiheitskriegen.

Sir Walter Scotts Beziehungen zu Deutschland. I. 45

ebd. S. 337 ff., wo von den Volkshelden Schill, dem Herzog von Braun- schweig und dem Tiroler Aufstand die Rede ist. Ferner preist er Bd. VII, 449ff. die Begeisterung, mit der sich Preußen 1813 gegen den Usurpator erhob, und die Tätigkeit der Black Bands, womit er wohl Lützows Schwarze Jäger meint (deren Erfolge freilich sehr gegen (lie von ihnen gehegten Erwartungen zurück blieben). Bd. VIII, 513 nennt er den Vormarsch Blüchers auf Waterloo ein Meisterstück und urteilt ebd. S. 516: “that for which the Prussians do deserve the gratitude of Britain ... is the generous and courageous confidence with which they marched at so many risks to assist..., and completted Ihe victory” etc.

Doch nicht aus literarischen Gründen allein wußte Scott die Kenntnis des Deutschen zu schützen, sondefn auch aus praktischen, wie ein Brief an seinen ältesten Sohn Walter!, lehrt, der als Cornet in einem englischen Husarenregiment stand und sich 1822 ın Berlin aufhielt. Er mahnt ıhn darin, daß er tüchtig lerne ‚Teütsche sprechen‘ (sic!), und daß er sich genau nach der dort herrschenden Etikette, auf die die Deutschen streng achten, richten möge. Dagegen warnt er ıhn als echter Tory vor den Tetes echauffees, d. h. den Demagogen, die gefährliche Leute seien. Ferner empfiehlt er ihm, den Baron de la Motte Fouqu& und dessen Gattin, deren Schriften er schätzte (s. u.) zu besuchen. Aber ebenso war Scott besorgt, daß sein Jüngerer Sohn Charles, der in Oxford studierte, neuere Sprachen lernte, unter denen German not the least useful seı?.

Mitunter hatte er auch deutsche Besucher in Abbotsford, von denen er einige in seinem Journal®, das leider nur die Zeit von Nov. 1825 bis April 1832 umfaßt, anführt. Da war ein aufdringlicher Bursche Burschall, ‘a teacher of German and learner of English’, dem er den Spottnamen Dousterswivel wie er einen Schwindler im “Antiquary’ (s. u.) nennt beilegt, und den er schließlich hinauskomplimentierte. Mehr Gefallen scheint Scott dagegen an einem jungen Königsberger (nustav Schwab und einem kurländischen Baron v. Meyersdorff ge- funden zu haben, die ihn über die damaligen Zustände in Deutschland, hzw. Polen und Rußland (1829) unterrichteten. Vielleicht können wir auch den berühmten Pianisten und Komponisten Moscheles hierzu rechnen, dessen Kunst er wohl bewunderte, dessen hübsche Gattin ılın Jedoch mehr anzog.

Deutschland selbst hat Scott erst in seinem Todesjahre bei der Rückkehr von seiner Reise nach dem Mittelmeer? und Italien, von der

! S. Lockhart 1. c. S. 4176. Wenn S$. in einem Briefe an Mrs. Hughes (8.196) in bezug hierauf von den licentious courts of Dresden and Berlin spricht, scheint das Beiwort unbegründet. ?2S.Journ. Il,S.76. °? Ebd.1,S.222f.,S.412,11S.113ff. 1. 255f. 4 Bei seinem Besuche Maltas hörte er die Sage vom Drachenkampf des Ritters de Gozon auf Rhodos und äußerte die Absicht, sie diehterisch zu behandeln. Im Journ. II, S. 474, deutet er an, daß er diese curious tale im Stile eines lay (Lay of the Last Minstrel) zu bearbeiten gedachte. Daß Schiller ihm hierin zuvor- verkommen war, scheint er nicht gewußt zu haben.

46 TE A. Hämel.

man vergeblich Erholung von seinem schweren Leiden gehofft hatte, kennen gelernt. Er kam dabei über Innsbruck, München, Ulm, Heidel- berg nach Mainz, von da ab mit dem Dampfboot den Rhein entlang bis Köln usw., doch war seine Krankheit schon so weit vorgeschritten, daß er nur wenig Teilnahme für die durchreisten Gegenden bewiest. Der ursprünglich beabsichtigte Besuch bei Goethe mußte umsomehr unterbleiben, als dieser bereits im März vorher gestorben war.

d.

Lateinische und französische Literatur im Mittelalter. Von Dr. A. Hämel, a. o.Prof. der rom. Philologie an der Universität Würzburg.

Wir erleben einen neuen Aufschwung der mittellateinischen Studien. Seit einigen Jahren ist durch Voßlers Verdienst der langr- verwaiste Lehrstuhl Traubes in München wieder erstanden und in Amerika gründete ein -Kreis amerikanischer Schüler Traubes vor kurzem eine Zentrale für mittelalterliche Studien, die ‘“Mediaeval Academy of America” mit einer Zeitschrift ““Speculum’, deren erste Nummer bereits wertvolle Beiträge zur mittelalterlichen Geistes- geschichte enthält. In Frankreich hat seit langem Edmond Faral die Führung, dem jetzt der durch Morel-Fatios Tode freigewordene Lehr- stuhl am College de France übertragen worden ist. Wer die Einrich- tung des College de France kennt, der weiß, daß damit eine viel weiter- reichende Einwirkung auf gebildete Kreise ermöglicht ist als das die französischen Universitäten mit ihrem vielfach beschränkten Wir- kungskreis tun können. Die mittelalterliche Geistesgeschichte und vor allem die lateinische Literatur des Mittelalters hat durch Farals Berufung eine weithin vernehmbare Vertretung in Frankreich we- funden. Freilich kommt diese Entwicklung nicht von ungefähr. Den erößten Anstoß hat sie durch Bediers vierbändiges Werk: « Les legen- des epiques » erhalten, in dem die lateinische Literatur des Mittel- alters in ein besonderes Licht gestellt und mit der französischen Lite- ratur in die Innigste Beziehung gesetzt wird. Nach Bedier faßt Wil- motte? das spezifisch Nationalfranzösische in Bediers Werk noch mehr zusammen und macht es schon beinahe zum unumstößlichen Dogma, daß die französischen Epen lateinischen Ursprungs sind. Boissonade® arbeitet dann in dieser Richtung weiter und versucht zu beweisen, daß die Franzosen die* eigentlichen Bekämpfer und Besieger der Mauren in Nordspanien waren und daß dieser Tatsache das Rolands- lied sein Entstehen verdanke. Und die „Ergebnisse“ Bediers sind schon so weit ins französische Volk gedrungeen, daß man es heute ın

’S. Lockhart, 1. c.

-* Le Francais a la tete epique. Paris 1917.

> Du nouveau sur la Chanson de Roland. Paris 1923.

I.ateinische und französische Literatur im Mittelalter. 47

allen Schulen Frankreichs als absolute Wahrheit verkündet: Die Chansons de geste sind ausschließlich Produkte der französischen Natio- nalität und haben nichts mit den Germanen zu tun. Nichts ist bezeich- nender für die französische Mentalität als diese rasche Popularisierung einer Theorie, die noch lange nicht endgültig bewiesen ist, die aber den Vorzug an sich hat, dem französischen Nationalbewußtsein zu schmeicheln und die Unabhängigkeit des französischen Geisteslebens und seine Selbständigkeit zu erweisen.

Farals Berufung auf einen Lehrstuhl des College de France ist, nur ein weiteres Glied in dieser Kette. Freilich, was er zu sagen hat, wird immer die Beachtung der Latinisten und Romanisten bean- spruchen dürfen. Gerade seine Antrittsvorlesung am 24. April 1925 wird besonders deshalb wertvoll sein, weil sie nicht, wie der Titel sagt, einen Überblick gibt über die lateinische Literatur des Mittel- alters, sondern die bisherige Forschung auf dem Gebiete der Bezie- hungen der lateinischen Literatur zur französischen Literatur des Mittelalters zusammenfaßt!. Niemand war dazu mehr berufen als Faral, keiner hat durch glänzendere Vorarbeiten seine bessere Eignung erwiesen. |

Faral sucht zunächst nach der üblichen Gedächtnisrede auf seinen Vorgänger, den berühmten Hispanisten Morel-Fatio, nach den Grün- den, warum die lateinische Literatur des Mittelalters bisher so zurück- gesetzt worden sei. Der großartige Aufschwung der romanistischen Studien im Laufe des letzten Jahrhunderts habe gerade ın Frank- reich die eigene große Vergangenheit wieder aufleben lassen, wodurch die lateinische Literatur in den Hintergrund gedrängt worden sei. Auch hätten die Forscher gefehlt, die dem großen Publikum den Wert und die Bedeutung der mittellateinischen Studien vor Augen geführt hätten. Ihre Veröffentlichungen beschränkten sich eben nur auf einen kleinen Kreis. Faral willnun den Beweis führen. daß die lateinischen Schriftsteller des Mittelalters die gleiche Wertschätzung verdienten, wıe die Dichter, die in der Volkssprache schrieben. Und er stellt auf eine Stufe: Rutebeuf und den Archipoeta, die Chansons-Literatur und die Carmina burana, die Poesie am Hofe von Alienor von Aquitanien, von Aelis, von Marie von der Champagne und den Briefwechsel zwischen Abelard und Heloise, Wace’s Brut und Geoffroi de Mon- mouth, Guillaume le Marechal und Fra Salimbene, Jean de Meung und Gautier Map.

‚Freilich sei das Latein nicht so wortreich wie die Vulgärsprache und das sei ein weiterer Grund der Zurücksetzung des Lateinischen segenüber den romanischen Idiomen. Trotzdem aber habe es sein eigenes Leben, ganz besonders im 12. Jahrhundert. Nicht nur der ınnere Wert seiner literarischen Erzeugnisse verlange Beachtung,

od Sie liegt jetzt auch gedruckt vor: La Littsrature latine du Moyen Age.ı Paris 1925. | ne

48 A. Hämel.

sondern auch die Eigenart seines Stiles. Vor allem aber diene es zum Verständnis der großen literarischen Strömungen, der großen kultu- rellen Fortschritte. Der Forscher von heute könne besser Umschau halten als der Zeitgenosse, der nur einen kleinen Ausschnitt gesehen hätte. Erst wır modernen Menschen könnten Ursachen, Verlauf und Folgen mittelalterlicher Ereignisse übersehen und zu einem Gesamt- urteil kommen. Für die Erklärung der literarischen Strömungen jener versunkenen Zeit und der mit ihr verbundenen Kulturentwicklung liefere uns die gleichzeitige lateinische Literatur die beste Unterlage. Für fast jede einzelne Literaturgattung habe die Kritik des 20. Jahr- hunderts das lateinische Element aufgedeckt.

Die Chansons de geste allerdings schienen dieser Annahme zu widersprechen, indem sie uns als rein französische, nicht als lateinische Schöpfungen erscheinen. Aber schließlich seien eben die Anfänge der Heldengedichte viel früher zu suchen als es die erhaltenen Reste wahr- scheinlich machen. Jedenfalls stünden wir mit den ältesten Chansons de geste nicht am Anfang, sondern am Ende einer Entwicklung. Beim Roman und bei der höfischen Erzählung lägen die Dinge viel klarer zutage. Drei Werke seien überhaupt nur Umarbeitungen antiker Vorlagen: der Roman de Thebes (Statius), der Roman d’Eneas (Virgil) und der Roman de Troie (Dares und Dietys). Und für die Liebes- dichtung sei Ovid (Methamorphosen, die Heroiden, die Ars amatoria) das nie zu erschöpfende Vorbild. Als man dann von der direkten Nachahmung zu selbständigen Schöpfungen fortschreitet, bleibe auch bei Chretien de Troyes, bei Gautier d’Arras, bei Thomas der latei- nische Einfluß unverändert wirksam (Theseuslegende, Apollonius von Rhodos usw.). Und niemand könne Chrötien und seine Schüler richtig verstehen ohne Kenntnis von Marbode, Bernard Silvestre, Alain de Lille.

Mit den volkstümlichen Erzählungen sei es nicht anders. Der Roman de Renard z. B. beruhe nach den Forschungen von Lucien Foulet auf der antiken Fabelliteratur und auf dem Isengrimus von Nivard.

Und in gleicher Weise schöpfe das Fabliau aus der antiken Lust- spieldichtung, die ihre Wiederbelebung einem lateinischen Dichter des 11. Jahrhunderts (Vitalis) verdankte. Die Stoffe nahm man aus Plautus und seinen Nachahmern, aus lateinischen Übersetzungen von Menander, die dann in ein klerikales Gewand gekleidet wurden.

Den Grund für diese Neubelebung antiker Kunstformen bildete die einheitliche, von den Klerikern ausgehende Kulturströmung, die die gelehrte und die volkstümliche Literatur in gleicher Weise befruch- tete und belebte. Und man könnte auch feststellen, daß die Gegenden Frankreichs, in denen die großen Werke der volkssprachlichen Lite- ratur entstanden sind, die gleichen seien wie die, in denen die ersten seroßen Schulen für lateinische Dichtkunst blühten: zwischen Seine

Lateinische und französische Literatur im Mittelalter. 49

und Loire, von der Champagne zur Normandie, vom Nivernais zum Anjou: Reims, Laon, Chartres, le Bec, Orleans, Fleury, Meung, Blois, Tours, Angers.

Nach diesem kurzen Überblick über die stofflichen Zusammen- hänge der lateinischen und der französischen Literatur des Mittel- alters spricht Faral von den geistigen Zusammenhängen der beiden mittelalterlichen Literaturen. Die französische Literatur habe ihre ‘innere Stärke von der lateinischen Kultur und diese sei es auch, die die Verbreitung der französischen Geisteserzeugnisse begründe. Sie schaffe die jedem Beobachter auffallende Expansion der französischen literarischen Schöpfungen. Immer wieder hätten die Nachbarvölker Frankreichs Lob gesungen. Die Bewunderung erregende Verbreitung der französischen Literatur im 12. und 13. Jahrhundert sei eine Tat- sache, die nicht ihresgleichen in der Geschichte habe: Spanien, Italien, England, Deutschland, Ungarn, Holland, Griechenland, Norwegen. Überall bewundere, plündere, übersetze man die französische Literatur. Es gewinne den Anschein, wie wenn Frankreich das eigentliche Land der Poesie wäre. Nur zum Teil wäre der innere Wert der französischen Dichtung jener Tage eine Erklärung für diese Erscheinung. Warum interessierte man sich z. B. in Norwegen für die chansons de geste ? Der Grund dafür könnte doch nur der sein, daß der französischen Dichtung Werte innewohnten, die über das rein Nationale hinaus- gingen und zu allen mittelalterlichen Menschen in gleicher Weise sprachen. Die klerikale Welt hätte eben in Frankreich das geistige Erbe Roms erblickt. Frankreich konnte auch das Land der Poesie sein, weil es das Land der Studien war. Aus allen Teilen der Welt kamen deshalb auch die Bildungsbeflissenen, jene vor allem, die sich literarische Bildung erwerben wollten, nach Paris: der Engländer Geoffroi de Vinsauf, der Deutsche Evrard, der Italiener Brunetto Latini.

Und was gab ihnen Frankreich ? Nicht nur seine eigenen lite- rarischen Meisterwerke, sondern weit mehr: es lehrte sie die Geheim- nisse der literarischen Kunst.

Lateinische und französische Literatur beherrschte daher das ganze Abendland. Auf ihnen beruhen die Meisterwerke der Nachbar- länder.

In Spanien sind es die Gesta Roderici Campidocti und das Poema del CGid; das Buch De septem sapientibus und’ das Libro de los engan- nos de las mugeres; Juan Ruiz baut auf Virgil und Ovid auf, wie Lopez de Ayala auf Livius.

In Italien werden Virgil, Wahlafried Strabon, verschiedene Auto- ren des quadrivium Vorstufen zu Dante, auf Boccaccıo wirken die alten Mythologen und Erzähler, auf Petrarca Virgil, Cicero, Seneca.

. Waren im frühen Mittelalter die Iren die Träger der Latinisierung, so haben später unter französischer Führung die lateinischen Studien

GRM. XV. h

50 A. Hämel.

in England Fuß gefaßt. Chaucer ist dafür das glänzendste Beispiel und Shakespeare selbst ist, so weit er antike Quellen benützt, nur ein Glied in der Kette dieser lateinischen Tradition.

In Deutschland ist schließlich der älteste poetische Traktat, der für die Vulgärsprache maßgebend sein sollte, lateinisch abgefaßt.

Faral bespricht dann weiter den Einfluß der keltischen Literatur auf die Geistesprodukte des Abendlandes. Früher habe man die Ein- wirkung von dieser Seite ungeheuer überschätzt. Nicht habe, wie Renan wollte, die keltische Literatur (Artussage) den Frauenkult geschaffen, sondern die französischen Höfe ın Paris, in der Champagne, in Südfrankreich; zum Teil hätten auch die kirchliche Poesie auf die Jungfrau, die auftauchenden neuplatonischen Ideen, die liturgischen Gedichte an der Entstehung des Frauenkultes zusammengearbeitet. Auch die Abenteuerromane stammten nicht von den Kelten. Die auf Chretien de Troyes wirkenden lateinischen Quellen seien auch die Grundlage für die keltische Poesie geworden. Andere keltische Aben- teuergeschichten fußten auf der Odyssee, auf der Legende von den drei Ratschlägen Salomons, wieder andere gingen ee orientalische Quellen zurück. | Das Tiefgehendste aber, was Faral aufgreift, ist das Problem der Entstehung der italienischen Renaissance. Nach Faral soll die genaue Weiterführung der Quellenforschung des trecento zu keinem anderen Ergebnis führen als zu der Feststellung, daß Italien den antiken Ein- fluß von Frankreich her überkommen habe. Das ganze Kapitel über die lateinische Tradition in Italien von Emile Gebhardt müsse neu geschrieben werden. Was E. Gebhardt als Beweise für die ununter- brochene Tradition in Italien anführe, gelte ebensogut, wenn nicht mehr, von Frankreich: der Sibyllenglaube fände seinen Ausdruck ın französischen Skulpturen ebenso wie in italienischen, die Prophe- zeiungen hätten die französischen und englischen Kleriker sehr stark beschäftigt, die Mırabilia urbis Romae seien nirgends besser bekannt xewesen als in Frankreich und England und hätten hier zur Ent- stehung einer eigenen Literatur geführt; die Vagantenpoesie hätte ıhren bedeutendsten Vertreter in Hugo le Primat aus Orleans. Vergil wäre in Frankreich weit mehr als anderswo gefeiert worden. Die italienischen Schulen hätten sich ganz nach französischen Vorbildern eingerichtet. Die französischen Bibliothekkataloge seien wichtiger als die italienischen. Cicero wäre in allen Schulen des Nordens im Urtext gelesen worden. Papst Gerbert hätte ın Reims doziert und seine Kenntnis Ciceros wäre auch nicht bedeutender gewesen als die des Marbode von Rennes, Plinius war Robert de Criklade, und Sueton war Einhard nicht weniger gut bekannt als Gerbert.

Einen Vorrang vor Frankreich könne also Italien in der Pflege der klassischen Studien nach Faral nicht beanspruchen, ja eher könnte man es den Kostgänger Frankreichs nennen.

Lateinische und französische Literatur im Mittelalter. 51

Aber diese kühne Behauptung erfährt doch durch Faral selbst im letzten Teile seiner Eröffnungsrede eine starke Abschwächung. Zum Lobe der lateinischen Literatur des Mittelalters will Faral noch weiter anführen, daß sie nicht auf dem beschränkten nationalen Gebiete stehen bleibe, sondern keine Grenzen, keine engherzige Ab- geschlossenheit kenne. Sie reiche soweit als die katholische Kirche reichte und sei somit eine neben den nationalen bestehende gemein- europäische Literatur, die Äußerung der westeuropäischen Kultur- vemeinschaft, die sich in den Kreuzzügen, im gotischen Stil, in sozialen Einrichtungen als eine einzige Gemeinde erweise.

Die Lektüre der Faralschen Ausführungen zeigt, daß sich auch die ernste französische Forschung bei aller Sachlichkeit und über- ragenden Detailkenntnis doch nicht ganz von Ideen freimachen kann, die mehr für die französische Psyche berechnet als wissenschaftlich unanfechtbar sind. Gewiß wird niemand Frankreich den Ruhm streitig machen auf dem Gebiete der lateinischen und volkssprach- lichen Literatur des Mittelalters im Norden und Süden Vorbildliches releistet zu haben; sicherlich wird niemand verkennen, daß Frank- reich während des Mittelalters in vielem führend war. Es geht aber entschieden zu weit, wenn Frankreich die lateinische Literatur des

Mittelalters so ziemlich für sich allein in Anspruch nimmt und darauf

die These aufbaut bis zu einem gewissen Grade auch die italienische Renaissance mitherbeigeführt zu haben. Faral widerspricht sich eigentlich selbst, wenn er zugibt, daß die lateinische Literatur inter- national ist, d. h. also daß sie der geistige Ausdruck einer nur äußer- lich in Nationen geteilten Kulturgemeinschaft ist, bei der es sich nicht immer einwandfrei feststellen läßt, welches Land den größten Anteil an der Förderung der Kultur genommen hat. Auch Frank- reich hat die lateinische Sprache, die lateinische Kultur, die lateinisch- römische Religion von außen her zugeteilt erhalten und nicht aus sich selbst gewonnen. Man braucht doch in diesem Zusammenhang neben den römischen Sendboten auch nur auf die Iren und Angelsachsen hinzuweisen und ihre Verdienste um die Förderung der festländischen Kultur. Sind denn nicht auch in anderen Ländern unabhängig von Frankreich wichtige Kulturzentren entstanden ? In Verona und Mon- tecassino, in St. Gallen und Reichenau, in Fulda und Mainz, in Regensburg und Tegernsee, in Trier und Köln usw. ? Kein Land ist berechtigt innerhalb der mittelalterlichen Kulturentwicklung den Vorrang zu beanspruchen, denn überall herrschte der gleiche Geist: der Geist des imperium romanum, das im Papsttum seinen Fortsetzer fand und das in der Aufrichtung der mittelalterlichen Kultureinheit eine große Synthese schuf, eine Tat, nach der wir heute so vergebens Ausschau halten. Diese wunderbare Harmonie zwischen einer alles beherrschenden Idee mag sie uns heute auch noch so überholt dünken und der straffen Unterordnung unter die einmal gegebene

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52 A. Hämel.

Autorität bedeutet eben doch eine vorbildliche Geschlossenheit und Kraftentfaltung und ihren beredten Ausdruck fand diese Einheit des Denkens und Fühlens in der vom gleichen Geiste beseelten lateinischen und volkssprachlichen Literatur des Mittelalters. Beide umschlingt ein gemeinsames Band: die gleiche Weltanschauung, der gleiche römi- sche Heimatboden. Freilich je mehr das Mittelalter fortschreitet, desto mehr streben beide Literaturen auseinander, desto mehr lösen sie sich voneinander los, desto mehr besinnen sich die Volkssprachen auf sich selbst. Frankreich kann ohne Zweifel von sich sagen, einer der gelehrigsten Schüler der lateinischen Literatur gewesen zu sein, aber falsch ist es, jede Äußerung volkssprachlicher Kunst aus der lateinischen Literatur abzuleiten. Es ist bezeichnend für die gegen- wärtige Geistesrichtung in Frankreich, daß man auf diesem Gebiete zu Übertreibungen neigt. Wie sagt doch Hermann Bahr einmal ? „Für mich ist die ganze französische Literatur der letzten dreißig | Jahre durchaus Selbstbesinnung Frankreichs auf sein katholisches Wesen!.‘‘ Ist nicht auch das Wiederaufleben der Studien über die lateinische Literatur des Mittelalters in Frankreich genau auf den- selben Ton gestimmt ? Ist es nicht ein Selbstbesinnen Frankreichs auf sein katholisches Wesen, wenn es die reichen Schätze der latei- nischen und volkssprachlichen Literatur des Mittelalters ausgräbt und erforscht und in der gegenseitigen Befruchtung dieser latein- romanischen Quellen die einzige Grundlage seiner literarischen Er- zeugnisse erblickt ?

Aber es erhebt sich doch die Frage: Ist es wirklich wahr und ein- wandfrei erwiesen, daß die französische Literatur als einzige Quelle die lateinische Literatur hat? Ist es wirklich so ganz und gar aus- geschlossen, daß von der germanischen Bevölkerungsschicht und ihrer Kultur, die sich nun einmal auch in Frankreich nicht wegleugnen läßt, irgendwelche Einflüsse zur Entstehung der französischen Literatur beigetragen haben ? Muß man wirklich jedwede germanische Grund- lage für die französische Poesie leugnen ?

Man hat das Problem gewöhnlich in der Weise behandelt, daß man germanische Volksdichtung und geistliche gelehrte Poesie von- einander schied. Aber selbst wenn man der Meinung ist, daß die volkssprachliche Dichtung dem überragenden Einfluß der Kirche, der das ganze mittelalterliche Leben durchdrang, seine Entstehung ver- dankt, auch dann ist es nicht notwendig die germanische Einwirkung gänzlich abzuleugnen. Es hegt natürlich nahe an lateinischen Ur- sprung zu denken, weil dem Klerus in erster Linie die lateinischen Quellen zur Verfügung standen. Aber hat der römische Klerus wirk- lich immer die bodenständige heidnische Dichtung verachtet, ver- nichtet, gänzlich ausgerottet ? Ist nicht vielmehr Grund zur Annahme

! Neues Wiener Journal vom 19. 7. 1923.

L.ateinische und französische Literatur im Mittelalter. 53

gegeben, daß die Glaubensboten bisweilen Anlaß haben mochten die heidnische Dichtung zu erhalten und nur nach ihrer Weise umzu- formen ?

Wie ging gewöhnlich die Christianisierung vor sich ? In kluger Selbstbeherrschung knüpft die römische Geistlichkeit mit ihren neuen Ideen ans Altgewohnte an. Um an Stelle des germanischen Götter- kultes die lateinische Form des Christentums zu setzen, wurden aus heidnischen Kultstätten christliche Kirchen und Kapellen. Wie sich in Rom auf den Trümmern der heidnischen Tempel christliche Heilig- tümer erhoben, so pflanzte eine kluge Politik diese Gepflogenheit auch in die Länder der Germanen. Das gehörte zum System der Christiani- sierung der heidnischen Germanen. Ja es gehörte bekanntlich schon zu den Zeiten des imperium romanum zu den Besonderheiten der römischen Politik, die fremden Götter nicht zu verdrängen, sondern sie mit in den eigenen Olymp aufzunehmen. Es ist also römische Sitte und Eigenart auf dem Bisherigen aufzubauen um so fast un- merklich zum Neuen überzuleiten. Und so sehen wir schließlich über- all an Stelle des heidnischen Kultes den christlichen, aus heidnischen -Festtagen werden christliche, das maleficium wird durch die bene- dictio ersetzt, die Vielgötterei wird durch die Heiligenverehrung und den Reliquienkult verdrängt und da sollten die germanischen Helden- lieder, die beliebte Helden besangen und die dadurch mit einer reli- giösen Weihe umgeben waren, von der Kirche überall und zu allen Zeiten ausgerottet worden sein ? Ist es nicht eher anzunehmen, daß die germanischen Heldenlieder, wo sie für kirchliche Zwecke brauchbar waren, ın christliche verwandelt und von christlichem Geiste erfüllte Heldenepen wurden ? Soll nicht von Anfang an sich geistliche und weltliche Poesie vermischt haben, bald durch stärkere Betonung des religiösen, bald des weltlichen Elementes ? Und wenn man an eine erste lateinisch-germanische Blüte des literarischen Lebens im Franken- reich nicht glauben will oder wenn man sie durch den im 7. Jahrhundert beginnenden religiösen und kulturellen Verfall für unwiederbringlich verloren hält, dann bleibt doch immer noch eine zweite Möglichkeit des Einflusses germanischer Dichtkunst auf die entstehende fran- zösische Nation. Noch im 7. Jahrhundert gab es heidnische Franken und das Christentum kam zu ihnen von St. Amand und anderen Orten aus, die Kreuzungspunkte zwischen deutschen und romanischen An- siedlungen waren. Für diese Tätigkeit hatten irische Mönche vor- gearbeitet, Columban und seine Schüler, und nach ihnen kamen angelsächsische Missionäre und mit ihnen der Geist Benedikts und Gregors des Großen, der großzügig und weitherzig keinerlei Zer- störung heidnischer Kultstätten fordert, auch Tieropfer bestehen läßt und nur die Ersetzung des Heidnischen durch christliche Ideen verlangt. Und haben nicht gerade die angelsächsischen Mönche in ihrer Heimat die alten germanischen Lieder in christliche verwandelt ?

54 Kleine Beiträge.

Haben sie nicht das Beowulflied, das doch ein ursprünglich rein heid- nisches Gedicht war, mit christlichem Geiste erfüllt ? Sie haben die alten germanischen Vorstellungen in ein christliches Gewand gekleidet und haben so auch die spärlichen Reste germanischer Poesie nicht vernichtet, sondern umgebildet. Sollten sie auf ihren Missionszügen nach Frankreich nicht auch ihre christianisierten Epen mitgebracht haben ? Wäre es so undenkbar, daß sie, die die höhere Kultur besaßen, von bestimmendem Einfluß auf die Entwicklung einer neuen Literatur- gattung gewesen wären ? Uns freilich tritt die Blüte dieser Literatur erst im 12. Jahrhundert entgegen. Aber auch Faral läßt durchaus die Frage offen, wann wir uns die Entstehung der Epenpoesie zu denken haben. Und eine so hochentwickelte Literaturgattung ent- steht nicht von heute auf morgen. Es ist natürlich klar, daß bei den einzelnen Epen bald das klerikale, bald das weltliche Kleid mehr in die Erscheinung tritt und daß allmählich ein Zug zum Abstreifen des Religiösen sich geltend machte. Und vielleicht stehen wir sogar mit dem Rolandslied mitten in diesem Wandlungsprozeß, vielleicht ist gerade das Rolandslied ein Beispiel für den Übergangsstil vom rein Religiösen zum rein Weltlichen: lateinisch-französische Poesie mit altem germanischem Einschlag.

So eng also auch die Beziehungen sind, die sich zwischen der lateinischen und französischen Dichtung des Mittelalters herstellen lassen, so sehr beide von einem Geiste durchdrungen sind und eine gemeinsame Kulturstufe widerspiegeln und dadurch naturgemäß auf- einander gewirkt haben, zur restlosen Erklärung der Entstehung der volkssprachlichen Poesie genügen diese gegenseitigen Beziehungen nicht. Unter der lateinisch-französischen Oberfläche ruht auch noch germanische Heldendichtung verborgen!, genau so wie in den Adern des französischen Volkes ein Tropfen germanischen Blutes fließt, das einst auch zur Entstehung der französischen Nation beigetragen hat.

Kleine Beiträge.

Eine mittelalterlich-indische Parallele zum Beowulßf.

Im 18. Kapitel des I1I. Buches von Somadevas großem Werke Kathä Sagit Sägara? (‚Der Ozean der Märchenströme‘“) findet sich unter anderen auch die folgende Erzählung.

Der König Devasena hat eine Tochter, Duhkhalabdhikä, deren Freier in der Hochzeitsnacht auf geheimnisvolle Weise getötet werden. Als sich kein Königssohn mehr findet, um sein Leben zu wagen, befiehlt der Monarch, der Prinzessin jede Nacht einen Untertanen zuzuführen; alle erleiden jedoch das gleiche Schicksal. Schließlich kommt die Reihe an den Sohn einer Witwe, dessen

ı Die meiner Überzeugung nach auch ihren Weg in die Acta (Gesta, Vitae) Sanctorum gefunden hat.

2 Tawney-Penzer, The Ocean of Story (London 1924) II, 69—75.

Kleine Beiträge. 55

Stelle der Held Vidüshaka einnimmt. Er wird ins Zimmer der Prinzessin geführt, halt sich aber wach und wartet des Kommenden. Als alles schläft, öffnet ein schrecklicher Räkshasa die Tür und steckt seinen ungeheuren Arm, der den Tod von Hunderten verursacht hatte, in das Gemach. Vidüshaka springt schnell auf und schlägt dem Ungeheuer mit einem Streich seines Zauberschwertes den Arm ab. Der Unhold entflieht; der Arm verbleibt in der Gewalt des Siegers, der ihn am folgenden Morgen den staunenden Hofleuten zeigt. Der Held heiratet die Prinzessin.

Einige Zeit danach verläßt Vidüshaka heimlich den Hof, um auf neue Abenteuer auszuziehen. Er gelangt an das östliche Meer und schifft sich mit einem Kaufmann ein. Plötzlich wird das Schiff auf hoher See angehalten. Opfer, die man den Dämonen der Tiefe darbringt, erweisen sich als nutzlos. Da schlägt Vidüshaka vor, selbst in das Wasser zu tauchen; doch stellt er die Bedingung, daß die Schiffsleute das Seil halten, an dem er sich hinunterläßt, und daß sie ihn wieder hochziehen, sobald das Fahrzeug frei geworden. Das Versprechen wird bereitwillig gegeben, und der Held läßt sich in die Tiefe gleiten. Drunten sieht er einen Riesen im Schlafe, dessen Bein das Schiff aufgehalten hatte. Mit seinem Schwerte schlägt er das Bein ab, und das Schiff wird frei. Der Kaufmann, von der Habgier gepackt (Vidüshakas Güter fallen nach dessen Tode natürlich ihm zu), segelt fort und überläßt ihn seinem Schicksal. Er versucht zunächst, auf dem abgeschlagenen Beine des Riesen ans Land zu rudern. Dann hilft ihm der Gott Räma, der seinen Mut bewundert.

Vidüshaka erreicht die Stadt Kärkotaka, wo er in einem brahminischen Kloster freundliche Aufnahme findet. Da läßt der König des Landes die Bekannt- machung ausgehen, daß derjenige, der die Königstochter zu heiraten begehre, nur eine Nacht in ihrem Zimmer zu wachen brauche. Obschon er den eigentlichen Grund dieses königlichen Edelmutes erratet, so ist er doch willens, ein neues Abenteuer zu bestehen. Man sagt ihm, daß alle seine Vorgänger dabei um- gekommen; doch läßt er sich nicht abhalten. In der Nacht kommt ein schreck- licher Räkshasa und steckt seine linke Hand in das Gemach, da er seine rechte verloren hat. Da erkennt der Held in ihm seinen alten Feind, stürzt auf ihn los und will ihm das Haupt abschlagen. Jener bittet um Gnade und erzählt seine Geschichte. Der Gott Siva habe ihm diese eigentümliche Pflicht auferlegt, damit die beiden Prinzessinnen nur einen echten Helden zum Gemahl erhalten.

Die Ähnlichkeiten zwischen dieser Erzählung und den beiden Haupt- abenteuern des angelsächsischen Gedichts sind einleuchtend genug, um einen aus- führlichen Vergleich unnötig zu machen, zumal wir ja durch Panzers Buch mit vielen mehr oder minder übereinstimmenden Märchen und Sagen vertraut gewor- den sind. Ich will daher den mir zur Verfügung stehenden Raum lieber zu einigen Ausführungen über den Aufbau und die wahrscheinliche Entstehung der indischen Variante benutzen, die ja den Anglisten im allgemeinen weniger bekannt sein dürfte.

Somadewa schrieb sein großes Werk am Hofe von Kashmir in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Seinen Stoff schöpfte er aus älteren Quellen, von denen einige bis ins 6. Jahrhundert zurückverlegt werden. Auf jeden Fall und das allein braucht hervorgehoben zu werden handelt es sich um traditionelle Märchen- und Schwankstoffe, von denen ein großer Teilohne Zweifel jahrhunderte- lang in Indien bekannt war, während ein anderer aus Iran zugewandert sein mag, zu Zeiten, die sich nur durch Einzeluntersuchungen für jeden Typ ermitteln lassen.

Aus den soeben erzählten Abenteuern gilt es zunächst die spezifisch indischen Züge von denen, die ich gemein-episch nennen möchte, zu sondern. Der Held Vidüshaka kann sehr wohl als ein indischer Herakles betrachtet werden; seine Wanderungen von Abenteuer zu Abenteuer, in denen die Hilfe und das persön- liche Eingreifen der indischen Olympier und auch das schöne Geschlecht nicht fehlen, rechtfertigen den Vergleich. Die Erzählung von dem Unhold, der die

6 Kleine Beiträge.

Freier in der Hochzeitsnacht tötet, ist schon aus den Apokryphen des Alten Testaments (Tobias) bekannt. Er tritt gewöhnlich im Märchen vom dankbaren Toten auf, das selbst morgenländischen Ursprungs ist!. Der Hauptunterschied zwischen diesem Typ und unserer Erzählung liegt in dem Wesen des Dämons, derim Dankbaren Toten in der Prinzessin selbst seinen Sitz hat, im Kathä Sagit Sägara jedoch von außen eindringt. Das letztere Motiv begegnet noch im Märchen vom Getreuen Johannes, das höchst wahrscheinlich aus dem Morgenlande stammt, und in einer Sagengruppe, die der amerikanische Forscher G.L. Kittredge „Die Hand und das Kind“ benannt hat?.

Das Verhältnis Vidüshakas zuın Sohn der Witwe erinnert an das des Per- seus zur Andromeda. Doch ist in fast sämtlichen Varianten dieses weitverbreiteten Märchentyps das Opfer ein Mädchen. Ein Mann als Opfer und das ist beachtens- wert begegnet wieder in einer indischen Erzählung, die im Mahabhärata ent- halten ist. Ein Brahmane will sich selbst einem Räkshasa opfern, als eine Bett- lerin, Kounti, einen ihrer eigenen Söhne als Stellvertreter anbietet. Nach einigem Zögern willigt der Brahmane ein, und Kountis Heldensohn Bhima tötet das Un- getüm?. In dieser Geschichte finden wir auch das Motiv der Aufopferung für ein anderes Lebewesen wieder, das man mit Recht als charakteristisch für die indische Erzählungsliteratur angesehen hat. Die Verkettung des Räkshasa mit dem Gott Siva das Ungeheuer ist jetzt der Diener des Gottes ist der letzte indische Zug, der erwähnt werden muß. Der reinen Märchendichtung sind solche theo- logischen Momente fremd.

Wenden wir uns nun zu den gemein-epischen Motiven: Es wird zunächst gut sein, auf die Ökonomie der Erzählung Somadevas einzugehen. Dieselbe besteht aus drei sich deutlich abhebenden Einzelabenteuern, von denen sich I und I11l auf ein Haar gleichen. Der einzige Unterschied ist der, daß der Räakshasa in I den rechten Arm verliert und in III Gefahr läuft, auch noch den Kopf einzubüßen. Man mag über die Kunst des Erzählers denken wie man will, volkstümlich und ursprünglich ist diese Art der Wiederholung nicht. In Wirklichkeit handelt es sich nicht sowohl um eine Wiederholung als vielmehr um eine Verdoppelung. Der- gleichen Häufungen sind aber für die indische Erzählungskunst charakteristisch, und es wäre gewagt, die unsere Somadeva zuzuschreiben. Doch wäre es auch kaum gerechtfertigt anzunehmen, der erste indische Erzähler habe aus sich heraus die Verdoppelung vorgenommen. Es ist methodisch sicherer, etwas Ähnliches in der nicht-indischen Quelle vorauszusetzen. Das Ungeheuer muß in der Tat zweimal aufgetieten sein, das zweite Mal seines rechten Armes beraubt.

Im zweiten Abenteuer besteht Vidüshaka ein anderes Ungetüm und schlayt ihm ein Bein ab. Zwischen I und II und zwischen II und Ill besteht nicht der geringste Zusammenhang; weder II noch III ist durch das Vorhergehende logisch bedingt. Es fragt sich, warum 11 überhaupt eingeschaltet worden ist. Wiederum muß man annehmen, daß der erste indische Bearbeiter etwas Ähnliches in seiner Vorlage gefunden hat. Da wir nun gesehen haben, daß der Räkshasa von I unbedingt zweimal aufgetreten sein muß, um zum Parallelismus von I und III Anlaß zu geben, so liegt der Schluß nahe, daß der Räkshasa von I mit dem Riesen von II identisch ist. In I wurde ihm der Arm abgeschlagen, in II machte ihm der Held vollends den Garaus. In I war der Riese der Angreifer, in II folgte ihm der Held in seine eigene Behausung auf den Meeresgrund. III ist eine Verdoppelung von ], durch das zweimalige Auftreten des Riesen veranlaßt. Da es selbst für einen Räkshasa schwierig gewesen wäre, nach seinem Tode oder auch nur nach Verlust eines Beins die zweite Prinzessin vor schwächlichen Freiern zu beschützen,

! G. H. Gerould, The Grateful Dead (London 1908), p. 167.

*2 In seiner bekannten Monographie: Arthur and Gorlagon, Harvard Studies and Notes in Philology and Literature VIII (1903), p. 149—275.

3 Mahabharatta, Adi-Parva; trad. Fauche Il, 51—73.

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so mußte die Identität des Riesen von I mit dem von II beseitigt werden; daher das zusammenhangslose Auftreten des Unholds von II.

Ob diese Veränderungen des ursprünglichen Stoffes Somadeva oder seiner Quelle zuzuschreiben sind, läßt sich noch nicht bestimmen, ist auch für unsere Zwecke von sekundärer Bedeutung. Auf jeden Fall weist die Verschmelzung der Sage mit zahlreichen typisch morgenländischen Elementen auf ihr hohes Alter und auf einen langen literarischen Lebenslauf hin. Die Tatsache, daß die ur- sprüngliche Form der Sage eine nahe Verwandte des Beowulf ist, dürfte sich aus meinen Ausführungen wohl einwandfrei ergeben. Wie ist diese nahe Verwandt- schaft nun zu erklären ?

Die ‚arische‘‘ Theorie wird wohl nur noch von wenigen ernstlich erwogen, und ich brauche nicht auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die ihrer Anwendung in unserem Falle entgegenstehen. Beeinflussungen literarischer Art, etwa die Wanderung eines Lieds (im Heuslerschen Sinne) von West nach Ost oder von Ost nach West, sind sehr wohl möglich. Man denke nur an die Balkanlieder epischen Gehalts, die in slavischen, neugriechischen und rumänischen Versionen gesungen werden, an die vielen mittelalterlichen Balladen, die aus romanischen in germanische Länder gewandert sind und umgekehrt, und an die Verseinlagen in Volksmärchen, die gleichfalls der Übersetzung durch volkstümliche Erzähler wenig Widerstand geboten haben. Doch läßt sich eine solche Wanderung epischer Lieder in ältester Zeit nicht erhärten, und es bleibt daher noch die Möglichkeit unabhängiger Entwickelung zu erwägen.

G. L. Kittredge, dessen Arbeit oben erwähnt wurde, wies darauf hin, daß der erste Teil des Beowulf der Kaınpf in der Halle ein so einfaches und natürliches Motiv ist, daß man die Frage nach einer unabhängigen Entwickelung in ganz verschiedenen Ländern und Erdteilen unbedingt bejahen kann. Die diesem Teile der Sage zugrunde liegenden Begriffe sind in der Tat elementar zu nennen: Ein Wiedergänger (ein solcher ist Grendel ursprünglich) sucht eine Halle heim. Die einheimischen Krieger versagen gegen ihn. Schließlich kommt der Fremde, dem der naive Glaube alle möglichen Kräfte zuschreibt; ihm gelingt es, den Unhold zu bewältigen.

Das Problem ändert sich jedoch, wenn wir den zweiten Teil zum ersten ziehen. Die Halle steht nicht notwendigerweise in der Nähe des Meeres, der Wiedergänger hat nicht natürlich seinen Aufenthalt auf dem Meeresgrunde, der zweite Kampf ist nicht durch den ersten bedingt. Diese Tatsachen lassen meiner Ansicht nach die Theorie von einer unabhängigen Entwickelung im Westen und Osten unhaltbar erscheinen.

Friedrich Panzer glaubte seiner Zeit, die Beowulfsage auf einen Märchentyp zurückführen zu können. Seine Ausführungen haben zu viel Widerspruch gefun- den, um uns zu erlauben, die Frage als endgültig gelöst anzusehen. Es steht jedoch fest, daß die indische Fassung des Somadeva in II viel größere Ähnlichkeit mit dem Märchen aufweist als der ags. Beowulf. Die Schiffsleute sind ohne jeden Zweifel die verkappten falschen Gefährten des Bärensohns. Doch ist die Möglich- keit nicht ausgeschlossen, daß dieses Motiv erst nachträglich aus dem Märchen in die Erzählung gekommen. Der Gedanke, einen Menschen ins Meer zu lassen, wie man ihn in einen Schacht läßt, macht sicherlich nieht den Eindruck des Ursprünglichen. Dazu kommt noch, daß diese indische Variante die einzige ist, in der das Innere der Erde durch die Meerestiefe ersetzt ist!, wie im Beowulf.

Unter diesen Umständen würde es doch sehr gewagt sein, wollte man beide Stoffe unabhängig vom Bärensohn ableiten. Ihre Ähnlichkeiten (Königshalle, riesiger Dämon, ausgerissener oder abgeschlagener Arm, Meeresgrund, Fehlen der entführten Prinzessinnen) gehen weit über die Grundlagen des Märchentyps hinaus.

—m—m—n nn

ı F. Panzer, Beowulf (München 1910), p. 116.

58 Kleine Beiträge.

Ich glaube, wir haben es hier mit einer alten Wandersage zu tun, die ursprünglich sehr wohl aus dem Bärensohn Märchen erwachsen sein mag, doch schon lange vor der Völkerwanderung ein von dem Märchen unabhängiges Dasein geführt hat. Die Frage nach dem Ort und der Zeit der Entstehung solcher Sagen ist im allgemeinen schwer zu beantworten, weil die Zahl der Varianten nie an die der Märchenvarianten heranreicht und auch die historischen Quellen oft viel zu wünschen lassen. Keine der Vorstufen des Beowulf ist bis jetzt einwandfrei erschlossen, und selbst meine Rekonstruktion der ursprünglichen Form von Soma- devas Erzählung beruht auf Schlüssen, die wohl im ganzen gerechtfertigt sind, sofern man nämlich der Logik einen weitgehenden Platz in der Märchen- und Sagenforschung einräumen will, die aber doch kaum schriftliche Dokumente ersetzen können. Die Neuausgabe von Tawneys Übersetzung des Kathä Sagit Sägara durch Herrn N.M. Penzer wird hoffentlich zu der alten Frage über das Verhältnis von Orient und Okzident neue Anregungen geben.

Minneapolis, Minn. Alexander Haggerty Krappe.

Die „Einheit“ in Goethes Fausttragödie. Als Ergänzung und Abschluß des Kl.B. ‚Zu Fausts Tod‘ (vgl. Bd.14, 8.308).

In dem Bd. 14, S. 308 dieser Zeitschrift veröffentlichten Zeilen über ‚„Fausts Tod‘ wurde gezeigt, daß scheinbare Unklarheiten und Widersprüche in dem ge- nannten Teile der Fausttragödie, besonders soweit das Verhältnis zwischen Faust und Mephisto in Betracht kommt, sofort schwinden, wenn man alles, was Goethe zur Beleuchtung und Erhellung desselben getan hat, insbesondere den Prolog im Himmel, sorgsam beachtet und würdigt. Ileute soll nun kurz dem damit ver- wandten, ebenfalls weitverbreiteten und hauptsächlich auf gewisse Auslassungen Wilhelm Scherers und Kuno Fischers (namentlich des letzteren) zurückgehenden Vorwurfe entgegengetreten werden, daß es Goethe, infolge der ungeheuren Zeit- spanne 60 Jahre! durch die sich das Schaffen am ‚Faust‘ erstreckt hat, nicht gelungen sei, seine Dichtung zu einer völlig einheitlichen zu gestalten, daß sich ihm, ohne daß er sich dessen bewußt geworden und ohne daß er sich dessen habe erwehren können, alte und neue Konzeptionen ineinander geschoben und dadurch Widersprüche zwischen einzelnen Szenen des ersten Teils erzeugt hätten, die zwar dem Dichter entgangen wären, die aber der aufmerksarne Leser, voraus- gesetzt, daß er sich trotz der herrlichen Poesie, die das Ganze durchweht, seinen kritischen Blick wahren könne, sofort entdecken müsse. Kuno Fischer legt in langen Auseinandersetzungen mehrere solche ‚Widersprüche‘ dar. Die haupt- sächlichsten derselben, die sich auf die Gestalt und das Auftreten des Mephisto- pheles beziehen, sind bereits durch die in Bd. 14, 5.308 gegebenen Darlegungen als nur Scheinbare erwiesen. Fischer hat, wenn er behauptet, daß nach dem ältesten Plane der Erdgeist die Führung Fausts hätte übernehmen sollen, wovon sich deutliche, von Goethe übersehene (!) Spuren in den Szenen „Höhle und Wald‘‘, sowie „Trüber Tag, Feld“ erhalten hätten, daß aber bei der Wiederaufnahme der lange Jahre unterbrochenen Arbeit an seine Stelle Mephistopheles, der leib- haftige Teufel, getreten sei, nicht beachtet, daß, wie Goethe durch den Prolog im Himmel deutlich angezeigt hatte, jenen Äußerungen lediglich ein Irrtum Fausts zugrunde liegt, der, ohne jede Kenntnis von der zwischen dem Herrn und Me- phisto getroffenen Vereinbarung, diesen für einen Abgesandten des Erdgeistes, des einzigen überirdischen Wesens, zu dem er in Beziehung getreten ist, hält und, nachdem er wiederholte Proben von der teuflischen, verworfenen Natur des letzteren erhalten, dem ‚erhabenen Geiste“ (d.h. dem Erdgeiste) gegenüber seinen Schmerz bekundet, daß ihm das hohe Glücksgefühl der stetig wachsenden Er- kenntnis der Natur und ihrer Lebensquellen durch die Gemeinheit des ihn degra- vierenden, ihn zu roher Begierde anstachelnden Gefährten getrübt und beein- trächtigt werde. Ebenso lösen sich bei genaueren Zusehen die anderen von Fischer

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behaupteten ‚Widersprüche, die hier im einzelnen aufzuführen und abzuweisen eine ebenso unerquickliche wie für den Leser ermüdende und unersprießliche Arbeit sein würde. Zeigt der große Gelehrte dabei auch den an ihm gewohnten Scharf- sinn, so kann ihm doch der Vorwurf nicht erspart werden, daß er es an der liebe- vollen Versenkung hat fehlen lassen, wie sie einer so herrlichen, großartigen und mit dem Herzblut geschriebenen Dichtung gegenüber unbedingte Voraussetzung jeder Beurteilung und Würdigung sein sollte. Sie ist ihm nur willkommenes Objekt für kritische Sezierübungen gewesen.

Weniger peinlich als die Fischersche Kritik berühren Scherers Ausstellungen an dem Goetheschen Werke, sofern ihnen auf Schritt und Tritt eine hohe Be- wunderung und Schätzung desselben zur Seite geht. ‚Nicht der ganze Plan ist ausgeführt‘, sagt er. „Wichtige Szenen, die Goethe beabsichtigt hatte, fehlen. Unebenheiten wurden nicht verwischt.... die lange, unterbrochene und den ver- schiedensten Stimmungen unterworfene Arbeit von sechzig Jahren hat eine wahre innere gleichmäßige Vollendung und Durchbildung nicht zu erreichen vermocht.“ Charakteristisch für Scherers Betrachtungsweise ist, daß er bei der Besprechung des zweiten Teiles das Fehlen jeder Szene, die Goethe im Entwurf ins Auge gefaßt hatte, gleichsam als ein Versäumnis, eine fehlerhafte Lücke rügt, ohne zu bedenken, daß eine geplante Szene doch dadurch wohl entbehrlich werden konnte, daß der Dichter das, was in ihr darzustellen war, bei der Ausführung der vorhergehenden (dem ursprünglichen Plane) zuwider etwa schon vorweg nahm. So heißt es bei der Besprechung des vierten Aktes: „Zum Dank dafür (nämlich für die dem Kaiser im Bürgerkrieg geleistete Hilfe) soll Faust mit dem Meeresstrande belehnt werden. Aber wieder fehlt die entscheidende Szene, wo dies wirklich ge- schieht.‘“ Sie fehlt mit vollem Recht und aus gutem Grunde. Denn in seinem Bestreben, die unersättliche Machtgier der Kirche darzustellen, hat der Dichter bei der Verteilung der Dankesgaben durch den Kaiser den schon reichbedachten Erzbischof noch einmal zurückkehren lassen mit den Worten: ‚Verzeih, o Herr! Es ward dem sehr verrufenen Mann (d. i. Faust) des Reiches Strand verliehen; doch diesen trifft der Bann, Verleihst du reuig nicht der hohen Kirchenstelle Auch dort den Zehnten ‚Zins und Gaben und Gefälle.‘ Damit war doch eine besondere Beleihungsszene, wie sie Goethe laut Entwurf ursprünglich geplant hatte, überflüssig geworden. Dem Dichter erschien die durch erneute Forderungen des Erzbischofs gegebene Charakterisierung der klerikalen Anmaßung und Un- ersättlichkeit wichtiger als die Darstellung der Belehnung Fausts mit dem Strande des Reichs. Wenn Scherer seinen Gesamteindruck von dem ganzen Werke in die schönen Worte faßt, daß ‚man zwar in der überwiegenden Masse des ersten Teiles die sichere kühne Hand des jungen oder des gereiften Künstlers bewundert“, daß „aber der zweite neben staunenswert gelungenen doch auch schwächere Partieen bietet, in denen die Hand des altgewordenen Meisters zu zittern scheint‘, so möchte ich das hier gebrauchte Bild (vom Niederschreiben der Dichtung) lieber dahin abwandeln, daß die Hand des dichtenden Jünglings und Mannes, wie von höchster poetischer Inspiration angefeuert, wie vom Genius der Dichtkunst selbst geführt, mühelos schaffend dahingleitet, die des Greises jedoch langsam und bedächtig das Erzeugnis symbolisierenden Sinnens zu Papier bringt. Man könnte sich versucht fühlen, die prägnante Formel zu wagen: „In jungen Jahren dichtet es in ihm, im Alter dichtet er selbst!.“

ı Mir scheint, es kann gar nicht nachdrücklich genug auf die Tatsache hin- gewiesen werden, daß Goethes Vorliebe für symbolisierende Darstellung, die schon gelegentlich in den jugendlichen Produktionen fühlbar wird, allmählich so an Stärke und Ausdehnung zunimmt, daß sie im Alter etwa mit Ausnahme ge- legentlicher Gefühlserzeugnisse, wie der „Elegie‘‘ die eigentliche Poesie mehr und mehr verdrängt und schließlich völlig ersetzt. Das fühlt ja auch jeder Leser des Faust unmittelbar bei der Vergleichung der beiden Teile: der erste bis auf

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Wenn es mir gestattet ist, gegenüber der im Vorstehenden fur angedeuteten, oft noch viel schärfer geübten Kritik, der Überzeugung Ausdruck zu geben, die sich mir in Jahrzehnte langer liebevoller eine andere kann nimmer zum Ziele führen Beschäftigung mit diesem ‚ewigen Gedicht‘‘ gebildet hat, so würde ich sagen: Es muß jedem Leser unbenommen bleiben, an Form und Darstellungs- weise desselben, je nach Geschmack und künstlerischer bzw. literarischer Ein- stellung auszusetzen, was und wie viel er will. So mag er Anstoß nehmen an der ungeheueren Buntscheckigkeit des sprachlichen Gewandes wie auch des szenischen Inhalts, auf die ja zwar durch das ‚Vorspiel auf dem Theater‘ Leser wie Zu- schauer gebührend vorbereitet werden, die aber selbst über das weit hinausgeht, was Shakespeare in dieser Hinsicht gewagt hat und was den britischen Dichter in den Augen des durch die abgezirkelte Gelecktheit der französischen Tragödie verwöhntenVoltaire als einen ‚‚sauvage ivre‘ erscheinen ließ. Was würde der letztere da nun erst über den Dichter des ‚Faust‘ gesagt haben? Es wäre ihm wohl nur noch ein ‚„sauvage ali&ene‘“ als Ausdruck vernichtendster Kritik übrig geblieben. Oder der Leser mag über die unerhörte Asyınmetrie des Werkes, namentlich in seinem ersten Teile mißbilligend den Kopf schütteln: breiteste realistische Ausführung (z. B. in der Gretchenepisode) einerseits, knappste, gedrängteste Symbolik andererseits. Z. B. in der Hexenküche, dem sinnbildlichen Ersatz für eine realistisch doch nur in breitester Ausführung mögliche Darstellung des Sicheinlebens Fausts in anrüchige Literaten- und Schauspielerkreise, mit all- mählichem Erwachen des bis dahin in ihm völlig zurückgedrängten geschlecht- lichen Triebes ‚„Ist’s möglich, ist das Weib so schön ?““ Oder in der (nordischen) Walpurgisnacht, der syınbolisch gedrängten Darstellung von Fausts Bekannt- werden mit allem, was die menschliche Gesellschaft des Unedlen, Gemeinen, Ver- worfenen in sich birgt, wovon doch auch die perfiden Sticheleien, Verleumdungen und sonstigen Perversitäten zeitgenössischer Literaten, die der Dichter in dem ZJwischenspiele ,„Oberons und Titanias goldene Hochzeit‘ geißelt, einen inte- »rierenden Bestandteil bilden und nicht bloß unorganisch eingeschobener ‚,sa- tirischer Häckerling‘“ sind, wie F. Th. Vischer meint. Oder man mag es als formale Unebenheit rügen, daß bei der „Ausfüllung der großen Lücke“ die Schlußnaht dem logisch geschulten, kritischen Leser aber auch nur diesem! insofern fühlbar wird, als manches in der Endpartie des für die vollständige Ausgabe des ersten Teils (1808) Hinzugedichteten sich inhaltlich mit dem deckt, was schon in der „Fragment‘“-Ausgabe von 1790 stand, sodaß zur Gewinnung einer glatten „Einmündung“ des Neuen in das Alte eine „Tilgung‘‘—sei es aın Ende jenesoder am Anfange dieses nötig geworden wäre. Wer sich an der wunderbaren Schönheit der betreffenden Stellen innigst erfreut hat, wird aber dem Dichter nur dankbar sein, daß er der strengen Logik ein solches Opfer an Poesie nicht gebracht hat.

zwei überhaupt nur symbolisch durchführbare Partien (Hexenküche und Walpur- gisnacht) durchweg dem unaufhaltsaın quellenden, oft förmlich sprudelnden Born der Poesie in Goethe entsprungen, der zweite, rein symbolische, dagegen Erzeugnis unablässigen feinen, stillen Sinnens und Denkens. Dazu kommt eine sich mit den Jahren steigernde Reserviertheit, eine höchst geistesaristokratisch, man könnte sagen „olympierhaft‘‘ anmutende, konsequente Ablehnung jeder Andeutung, jeder Unterstützung des Lesers in der Deutung des Dargebotenen. Selbst seinen Freund Schiller ließ er vergebens nach der im „Märchen“ verborgenen Idee raten, nahm eine irrige Andeutung ruhig hin, ohne ihm auch nur mit einem Worte aus seinem Irrtum herauszuhelfen. Die Verkennung dieser beiden wich- tigen Tatsachen: des Dominierens der Symbolik in Goethes Alter und seiner prinzipiellen Ablehnung jeder Andeutung darüber hat manchınal Unheil gestiftet. So nennt z. B. Gervinus die „Novelle“ eine „unsäglich geringfügige Produktion‘, weil er ihre tiefe Symbolik nicht nur nicht erkannt, sondern das Vorhandensein einer solchen überhaupt nicht vermutet hat.

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All die erwähnten formalen Unebenheiten aber wird man doch wohl als mehr oder weniger belanglos, als Adiaphora bezeichnen können, als Dinge, die dem einen oder dem anderen auffallen, vielleicht gar mißfallen mögen, ohne daß davon die wichtige Frage, ob die Fausttragödie als Ganzes auf den Ehrentitel eines Kunst- werks Anspruch erheben darf oder nicht, irgendwie berührt wird. Wohl aber ist für die Beantwortung dieser Frage entscheidend, ob die Idee der Dichtung eine einheitliche, ob ihre Durchführung durch alle Teile derselben, die ältesten wie die jüngsten, widerspruchslos ist. Wer, wie Kuno Fischer, nicht nur in Mephistopheles eine Vermengung zweier auf völlig verschiedenen Konzeptionen beruhender Gestalten, sondern sogar in dem Werke selbst eine Zusammen- schweißung „zweier Dichtungen, nach Grundstimmung und Anlage verschieden“ sehen zu müssen erklärt, der spricht damit der Tragödie den Charakter eines wirk- lichen Kunstwerks, also auch jeden höheren Wert ab. Sie wäre dann nur noch ein Konglomerat von mehr oder weniger „schönen“ Akten und Szenen, und Goethe wäre einer bedauerlichen Selbsttäuschung und Überschätzung seines Werkes zum Opfer gefallen, als er, nach Jahren hingebendsten Schaffens unter Einsetzung seines besten Wollens und Könnens, beim endlichen Abschluß des Ganzen voll inniger Befriedigung in die Worte ausbrach: ‚Mein ferneres Leben kann ich nunmehr als ein reines Geschenk ansehen, und es ist iin Grunde ganz einerlei, ob und was ich noch etwa tue.“

Berlin-Schlachtensee. Theodor Kalepky.

Auf den Spuren des geschichtlichen Faust.

Der Reiz ist nicht gering, den geschichtlichen Spuren jener Persönlichkeit nachzugehen, von der man in den Lagerzelten der Heerscharen des 30 jährigen Krieges sich nicht weniger erzählte als in manchem Hörsaal deutscher Hochschulen alter Zeit, jener Gestalt, von der der Bürger der geruhsamen Kleinstadt mit einem angenehmen Schauer sich beim Abendschoppen unterhielt und das Volk auf den Jahrmärkten wie auf den Messen großer Städte nicht genug hören konnte, jenes Mannes, der dann zum Helden von Goethes ‚‚Faust‘‘ werden sollte. Es ist ein eigen Ding mit jener Gestalt: Der geschichtliche Faust, der soviel steht fest seine Zeitgenossen nicht selten getäuscht und genarrt hat, führt noch vier Jahrhunderte nach seinem Tode ernste Forscher auf mannigfach verschlungene Irrwege. Immer haftet ihm etwas vom Wesen Proteus’ an. Nirgends scheint man ihn greifen zu können. Glaubt man seine Person einmal festumrissen vor sich zu haben, so steht sie auch schon wieder in anderer Gestalt vor uns, ohne daß man neuer Zweifel über die Identität der beiden Erscheinungen los werden könnte.

Als den konkreten Kern der späteren Faustsage sieht ınan heute in der Regel die Lebensfahrt eines Georg Faust an, der von 1506 an auftaucht. Daß er identisch ist mit dem in einem Briefe von 1513 erwähnten ‚Georgius Faustus Helmitheus Hedebergensis‘‘ weiß man schon seit längerer Zeit, ist aber durch Schottenloher! und Babinger? neuerdings nachgewiesen worden. Schottenloher konnte nämlich eine Notiz in dem Wettertagebuch eines Priors von Rebdorf, Kilian Leib mit Namen, heranziehen, das zum 5. Juni 1528 von einem ‚Georg Faust aus Helm- stadt‘ berichtet; Leib überliefert dessen Aussage, daß, wenn Sonne und Jupiter im selben Sternzeichen stünden, Propheten gleich ihm (Faust) geboren würden; derselbe Georg Faust habe sich als Komtur der Johanniter-Kommende Heilenstein an der Grenze Kärntens ausgegeben. Durch den Hinweis auf diese Stelle und auf die hiermit bezeugte Tatsache, daß Georg Faust aus Helmstadt stammte, war auch die bis dahin ziemlich rätselhafte Bezeichnung ‚‚Helmitheus Hedebergensis‘ t Bericht in den Münchener Neuesten Nachrichten 5. Juli 1913, Nr. 338. 2 Der geschichtliche Faust, in der Alemannia Bd. XLI (1913) 152 ff.

62 Kleine Beiträge.

geklärt. Schottenloher hat nämlich dargetan, daß es sich hierbei um eine Kor- ruptele für „Helmsteten(sıs)‘‘, also um die lateinische Bezeichnung für den aus Helmstadt stammenden Heidelberger Georg Faust handle, und daß diesen Hinweis erhielt Schottenloher durch Sigmund Riezler dieses Helmstadt nicht etwa auf die im Braunschweigischen liegende Kreisstadt, sondern vielmehr auf den Stammsitz der Grafen von Helmstadt, einen kleinen Ort in der Nähe von Heidelberg, zu beziehen sei.

Nun hat Schottenloher weiter die Vermutung aufgestellt, daB dieser ‚‚Ge- orgius Faustus Helmstetensis‘‘ identisch sei mit dem am 9. Januar 1483 in Heidel- berg immatrikulierten ‚Georius Helmstetter dioc. Warmaciensis,‘‘ der daselbst aın 42. Juli 1484 zum „baccalaureus artium‘‘ und am 1. März 1487 zum Lizentiaten promoviert wurde!.

In diesem Georg Faust aus Helmstadt wollte Schottenloher den Faust der Sage sehen, nicht ohne hierbei dem Widerspruch Babingers zu begegnen; der Faust der Sage, wie ihn sein anonymer Biograph im Volksbuch von 1587 wie dann auch der Schwabe Widnıann in seiner Faustbiographie von 1599 geschildert hat, heißt ja nicht Georg, sondern Johann. Und dieser Name Johann wird auch durch einen posthumen Bericht Philipp Melanchthons, von Johannes Maır- lius überliefert, bezeugt, wird ferner durch die Darstellung der in der 2. Auflage von Wiers Schrift ‚De praestigiis daemonum‘““ gesichert.

Aus der „Visitenkarte“, welche Georg Faust für Trithenius 1506 in Geln- hausen zurückgelassen hatte und die uns dieser wiedergibt, können wir nun mit Bestimintheit ersehen, daß es eben neben diesem Georg Faust noch einen anderen Faust gegeben haben muß, dem gegenüber sich der Georg Faust als „Faustus junior“ bezeichnete. Die Visitenkarte lautete nämlich folgendermaßen: ‚Magister Georgius Sabellicus, Faustus junior, fons necromanticorum, astrologus, magus secundus, chiromanticus, aeromanticus?, pyromanticus, in hydra arte secundus®.‘* Auch die Erklärung dieser ‚Visitenkarte‘ bildet manche Schwierigkeiten: was bedeutet: ‚‚magus secundus?,‘““ was „in hydra arte secundus‘“ ? Ich glaube bestimmt, daß wir es auch hier mit Korruptelen zu tun haben. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß uns natürlich keineswegs das Original dieser ‚Visitenkarte‘ überkommen ist, daß sie uns vielmehr nur durch Trithem übermittelt ist, daß auch keineswegs unmittelbar von diesem die hier wiedergegebene Lesart bezeugt ist, sondern durch mehrere Hände hindurchgehen mußte®, bis der Druck, dem wir heute ihren Wortlaut entnehmen, zustande kam, dann werden wir esunssehr wohl erklären können, wenn ein Abschreibe- bzw. Druckfehler in diese sehr mittelbare Überlieferung hineingekötnmen ist, ein Fehler zudem, dessen häufiges Vor- kommen jedem bekannt ist, der schon Korrekturen gelesen hat und der sich die

! G. Toepke, Die Matrikel der Universität Heidelberg I (Heidelberg) 188%, S. 370; ITS. 416.

2 Ich verweise hinsichtlich aller Quellenzeugnisse für den geschichtlichen Faust auf Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung II2 (Dres- den 1856) 561 ff.; B. Housse, Die Faustsage und der hist. Faust (Luxemb. 1862), 117 ff.

3 So wird das „agromanticus“ des Druckes (s. im folgenden) zu emendieren sein, wie man mit Recht annimmt.

% Goedeke II 562; Fr. Kluge, Vom geschichtlichen Faust, bei Kluge, Bunte Blätter (2 Freiburg ı. Br. 1910) 16; vgl. auch G. Witkowski, Der histor. Faust, in der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft NF. 1. Vierteljahrshefte 189697 (1897) 8. 2981f.; R. Petsch, Der historische Doktor Faust, in der German.- roman. Monatsschrift (1911) 108ff.

° Diese Frage wirft Petsch a. a. ©. 313 auf.

6 Sie wird uns durch die 1536 in Hagenau erfolgte Veröffentlichung der ‚Epistolae familiares“-Trithems überliefert.

Kle.ne Beiträge. 63

große paläographische Ähnlichkeit zwischen s und f vergegenwärtigt: statt „secundus‘‘ ist namlich, wie ich glaube, an beiden Stellen ‚„fecundus“‘ zu lesen; so erhalten jene Titel sogleich einen viel klareren Sinn: ihr Träger ist der ‚magus fecundus‘“‘, der ‚in hydra arte fecundus‘, d.h. natürlich der ‚‚vielvermögende Zauberer,‘‘ der „vielvermögende Wasserkünstler.‘“

Doch das nur nebenher! Von Bedeutung ist, daß auf Grund der hier von Georg Faust geführten Bezeichnung ‚,Faustus junior‘ ein ‚„Faustus senior“ als notwendig vorhanden angenommen werden muß. Schon frühere Gelehrte wie H. Düntzer! oder Fr. Kluge? und andere Forscher haben diesen Schluß gezogen. Und zwar hat man, wie mir scheint, mit Recht, angenommen, daß das Leben dieses „Faustus senior“ noch ins 15. Jahrhundert fallen muß.

Nun möchte ich zunächst auf eine Dichtung aufmerksam machen, welche von einem Wormser Stadtarzte, Johann von Soest mit Namen, der vor allem ein großer Musiker war und als solcher an aller möglichen Herren Höfen sich auf- gehalten hat, namentlich aber lange Jahre in Heidelberg als Kapellmeister der Pfälzer Kurfürsten Friedrichs des Siegreichen und Philipps des Aufrichtigen ge- wirkt hat?, hinweisen; diese ungedruckte Dichtung! ist am 5. Oktober 1495 in Worms vollendet und handelt „Von der Regierung einer Stadt‘; die Hand- schrift’, die sie uns überliefert, ist das für den Stadtrat von Worms, dem das Werk gewidmet war, bestimmte Original. Durch das Entgegenkommen des Hoch- würdigen Ilerrn Bibliothekars vom Kloster Einsiedeln, dem sie heute gehört, konnte ich diese Handschrift mir nach München senden lassen, um sie hier zu kopieren und eingehend zu studieren. In anderem Zusammenhange gedenke ich über dieses höchst interessante Werkchen zu handeln. Hier sei nur darauf ver- wiesen, daß im vierten Kapitel dieses Gedichtes und in dem zugehörigen la- teinischen Kommentar jedes der zwölf Kapitel der Dichtung hat eine „Decla- ratio‘ in Latein, die der Verfasser selber mit Rücksicht auf die „Gelehrten Herren“ im Stadtrat geschrieben hat von den verschiedenen Schichten und Ständen einer städtischen Bevölkerung gehandelt wird und daß hierbei all die freien Berufe aufgezählt werden, deren Angehörige unter den Einwohnern einer Stadt zu finden sein sollten: Juristen soll man haben, auch Ärzte, desgleichen Gramma- tiker und Logiker, Rhetoriker und Physiker, Arithmetiker und Geometer dürfen nicht fehlen. Ganz besonders soll man sich um gute Musiker umsehen. Wie sich dder Autor all dieser Berufe mit Wärme annimmt, ebenso scharf lehnt er zwei andere Kategorien als Einwohner einer Stadt ab: Astronomen und Astro- Iogensowie Alchemisten. Dabei ist es nun höchst auffällig, welche umfassende Polemik der Dichter gegen diese Künste und ihre Vertreter führt: mehrere Dutzend Verse und ein sehr ausgedehnter Teil des Kommentars zum vierten Kapitel wird ihrer Bekämpfung gewidmet.

„Astrologos, der acht nit vil,

Ihr Kunst vast selten trifft das Ziel,‘ sagt der Autor und ınahnt, die Aussagen der Astrologen zu verachten und sich an Averro&s zu halten, der im 12. Buch seiner Metaphysik die Astronomie verwerfe. (ranz besonders wird Cato als Kronzeuge dafür, daß der Mensch Gottes Willen

2 Goethes Faust 2, Leipzig 1857.

2 A.a.0.19 A. 2.

3 Wir wissen all dies aus der Selbstbiographie des Johann von Soest; vgl. darüber vorläufig die Abhandlung von Fr. Pfaff, Johann von Soest, in der Allge- meinen Konservativen Monatsschrift 1887, S.146ff. Fr. Stein, zur Geschichte der Musik in Heidelberg, Heidelberg 1912, 11 ff. Nun auch Johann von Soest, herausgeg. von W.R. Zülch, Frankfurt 1920. Eine größere Biographie über Johann von Soest hoffe ich demnächst veröffentlichen zu können.

* Eine kurze Inhaltsangabe von P. Gall More] im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit NF. X11 (1865) S. 468.

5 Cod. msc. Einsidl. 1069 (687).

64 Kleine Beiträge.

nicht erforschen solle, herangezogen. Der Einwand, der von den Anhängern der Astrologen erhoben werden könne, nämlich, daß sich nicht selten die Prophe- zeiungen derselben bewahrheiteten, wird von unserem Dichter mit Berufung auf St. Augustin widerlegt. Auch auf die Bibel beruft sich der Dichter. Und ebenso scharf wendet er sich gegen eine Kunst: „heißt Alchemy.‘‘ Denn sie sei „lauter Buberei.‘“ Die „Knaben“, ‚die mit der schwarzen Kunst umgehen“, an der nichts weiter sei, als „viel Berühmen‘‘, soll man unverzüglich aus der Stadt vertreiben,

„auf daß der arm’ gemeine Mann,

Der dann nit schreiben, lesen kann,

Nit werd’ betrogen um sein Geld. Wohl der Stadt, die solch Ordnung hält!“

Im Kommentar begründet der Dichter diese Ansicht in gelehrten Aus- führungen und mit Berufung auf das Kirchenrecht; er wendet sich gegen Leute, welche die Zukunft vorauszusagen suchten und die Lehre vertreten würden, es sei der Charakter des Menschen den zwölf Sternbildern unterworfen. Diehl. Schrift und Isidor von Sevilla werden als Autoritätsbeweise herangezogen, ebenso auch hier Averro&s und Cato. In scholastischer Weise wird der Einwand, den die Astrologen erheben können, widerlegt. Auch Seneca und Gerson werden zitiert; natürlich fehlen auch Aristoteles und die Bibel nicht. Schließlich gelangt der Verfasser zu dem Ergebnis: ‚Non igitur astrologis est credendum, qui totum perturbent universum, seipsos et alios decipiunt et finaliter miseras anımas ad gehennam perducunt.‘‘“ Die Astrologie dürfe also von katholischen und guten Bürgern unter keinen Umständen beßünstigt werden. Und ebenso werden auch in diesem Kommentar die Alchimisten abgelehnt, denen leider ‚viele Bürger und Adelige“ mit leidenschaftlicher Wärme anhingen und sich von ihnen täuschen ließen, ohne zu merken, daß die Leidenschaft die Wurzel alles Übels sei.

Ich möchte diesen 1495 geschriebenen Ausführungen des Wormser Stadt- arztes Johann von Soest über die Astrologie und Alchimie einige Sätze an die Seite stellen, die von einem seiner Nachfolger iın selben Wornss reichlich vier Jahrzehnte später geschrieben worden sind. Ich meine den Wormser Stadtarzt Philipp Begardi, der in seinem 1539 gedruckten ‚Index sanitatis!“ von den bösen, unberufenen, trägen, unnützen und ungelehrten Ärzten spricht und dabei sagt: ‚es wirt noch eyn namhafftiger dapfferer mann erfunden ich wolt aber doch seinen nam nit genent haben; so wil er auch nit verborgen sein noch unbekant. Denn er ist vor etlichen jaren vast durch alle landtschaft, Fürstenthumb und Königreich gezogen, sein namen jederman selbs bekant gemacht und seine grosse Kunst, nit alleyn der artznei, sonder auch Chiromancei, Nigromancei, Visionomei, Visi- ones imm Christal und dergleichen mer künst sich höchlich berümpt. Und auch nit alleyn berümpt, sondern sich auch eynen berümmpten und erfarnen meyster bekant und geschriben. Hat auch selbs bekant und nit geleugknet, daß er sei und heyß Faustus, domit sich geschriben Philosophum Philosophorum etz. Wie vil aber mir geklagt haben, daß sie von im seind betrogen worden, deren ist eyn grosse zal gewesen. Nun, sein verheyßen ware auch groß wie des Tessali. Der- gleichen sein rhuın wie auch des Theophrasti; aber die that, wie ich noch ver- nimm, vast kleyn und betrüglich erfunden: doch hat er sich im geltnemen oder empfahn (das ich auch recht red) nit gesaumpt, und nachmals auch im abzugk. Er hat, wie ich beracht, vil mit den ferBen gesegmt. Aber was soll man nun darzu thun hin ist hin, ich vil es Jetzt auch do bei lassen, lug Du weiter, was Du zu schicken hast.“

Die Berührungspunkte zwischen diesem Bericht des Begardi und der Pole- mik seines Vorgängers ‚Hans von Soest sind mehrfacher Art. Es scheint daher auch sehr gut denkbar zu sein, daß derselbe „Faustus‘‘ von dem der Bericht Begardis handelt, auch das besondere Objekt der Polemik des Hans von Soest

! Fol. 17a. Worms 1539.

Kleine Beiträge. 65

war, daß dessen Polemik nicht bloß Astrologen und Alchimisten im allgemeinen bekämpfen wollte, sondern noch eine besondere Absicht hatte, und daß dieser ‚Faust‘, gleichviel, ob nun ein „Faustus senior‘ oder ob jener ‚„Georgius Sabel- licus Faustus junior‘ selber damit gemeint ist, in Worms seine Künste und seine Bauernfängerei betrieben hat.

Doch ich möchte hier die Aufmerksamkeit der Leser noch auf etwas anderes lenken: von dem Johannes Faust, von dem Melanchthon, der selbst bekanntlich aus Bretten stammte, erzählte und dessen Bericht wir durch Manlius erfahren, hören wir, daß er indem unmittelbar bei Bretten gelegenen Knittlingen zu Hause war. Von dem Georg Faust nimmt die neueste Forschung an, daß er aus Helmstadt bei Heidelberg stammte. Und nun möchte ich hiermit eine Stelle der Heidelberger Matrikel vergleichen!, die uns sagt, daß unter dem am 23. Juni 1425 gewählten Rektor Gerhard Brant in Heidelberg immatrikuliert wurde: ‚Johannes de Brethem? alias Helmstad dyoc. Spir.‘“ Wir haben also hier die merkwürdige Tatsache, daß wir den hier erwähnten Johannes gleich- zeitig mit Bretten, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft der von Melanch- thon gemeinte Johann Faust geboren war, wie auch mit Helmstadt, dem Herkunftsort des Georg Faust, in Verbindung gesetzt finden. Der- selbe Johann von Helmstadt wurde dann unter dem Dekanat des Nikolaus Karl von Wachenheim (1430—31) zum „Lizentiaten‘‘ promoviert?.

Es wäre möglich, daß dieser Johannes aus Bretten bez. dem nahen Khnitt- lingen stammte, daß er dann nach Helmstadt übergesiedelt war und daß sein Sohn oder auch sein Enkel jener ‚Georius Helmstetter‘“ war, der 1483 seine Stu- dien in Heidelberg begonnen und sich dann, vielleicht mit Rücksicht auf seinen gleichfalls als Astrologe berühmten Ahnen, als „Faustus junior‘ bezeichnete, während ein anderer Abkömmling jener „Joannes Fust de Symmern (Mogunt. dyo.)‘ war, der am 23. Juni 1505 in Heidelberg immatrikuliert wurde?. Denn daß auch er in das Gewebe der Sage verstrickt wurde, zeugt der Umstand, daß dieser historische „Joannes Fust de Symmern‘ am 15. Januar 1509 nachweislich zum Baccalaureus promoviert wurde und zwar als erster von 16 Kandidaten, daß aber . auch das Frankfurter Volksbuch von 1587 von seinem Johannes Faust zu be- richten wissen will, er habe das Magisterexamen glänzender als seine 16 gleich- zeitigen Bewerber bestanden?. Babinger hat, vielleicht mit Recht, die Ver- mutung aufgestellt, daß dieser Johannes Faust ein Sohn sei des ‚Georg Faustus Junior.‘‘ Jedenfalls kann schon aus Gründen der Chronologie dieser „Johannes Fust de Symmern‘“ kaum als der von uns gesuchte ‚Faustus senior‘ betrachtet werden. Dieser bleibt vielmehr auch heute noch eine unbekannte Größe, wenn auch die Vermutung nicht ganz fern liegt, daß der um 1430 in Heidelberg promo- vierte Johannes von Bretten bzw. von Helmstadt die älteste Gestalt ist, die Züge abgegeben hat zum Faust der Sage. Es scheint mir auch beachtenswert zu sein, daß die Vorstellung, der große Astrologe habe seine Seele dem Teufel überliefert, wohl schon dem 15. Jahrhundert nahelag; Johann von Soest, dessen Polemik gegen die Astrologen und Schwarzkünstler wir heranziehen konnten, sagt aus- drücklich, daß die Anhänger der Astrologie ‚thre armen Seelen schließlich zur Hölle führen.“

Nicht Klarheit können diese Beobachtungen in das verworrene Problenı des historischen Faust bringen. Nur einige neue Lichtstrahlen sollen sie auf das- selbe fallen lassen. Vielleicht gelingt es späteren Forschern, der Wahrheit näher zu kommen.

München. Max Buchner.

ı Toepke a.a. O. 1167. ? Natürlich Bretten. 3 Toekpea.a.O.1I 379. * Ebd. 1457. ° Klugea.a.0.18 A.1.

GRM. XV. ö 5

66 | Kleine Beiträge.

„Als er das hörte, war er überrascht“.

Ein Medium.

Sätze von dem Typ: Als er das hörte, war er überrascht, fallen durch eine interessante Eigentümlichkeit auf. Der Zusammenhang erfordert im Hauptsatze einen Verbalbegriff, der das Eintreten einer Handlung oder eines Zustandes be- zeichnet. Das Subjekt in unserem Beispiel hörte etwas, und als eine Folge davon trat bei ihm der Zustand der Überraschung ein. Um ein Eintreten zum Ausdruck zu bringen, pflegt man sonst das Hilfsverb wurde zu gebrauchen. Der Leser er- wartet deshalb wurde, findet aber statt dessen das Hilfsverb war. Darin liegt das Eigentümliche. Das Verb war in Verbindung mit dem Part. Perf. eines perfek- tiven Verbs pflegt ja das Vorhandensein eines Zustandes, ein Fortdauern, zu bezeichnen, nicht aber ein Eintreten: Er war überrascht bedeutet also gewöhnlich, daß er sich in einem Zustand der Überraschung befand. In meinem Beispiel dagegen haben diese Worte einen ganz anderen Sinn, sie besagen nämlich, daß der Betreffende in einen Zustand der Überraschung geriet. Man kann das Ein- treten des Zustandes und die Nichtdauer durch eine adverbiale Bestimmung noch deutlicher machen: Als ich das Telegramm bekam, war ich im ersten Moment aufs höchste überrascht, im nächsten Augenblick hatte ich aber die Fassung schon wieder gewonnen.

Uni über diese recht merkwürdige Erscheinung Auskunft zu erhalten, zieht man natürlich alle deutschen Autoritäten zu Rate, die einem zu Gebote stehen. Man befragt verschiedene Grammatiken und Nachschlagebücher, auch die größten. Leider lassen sie einen alle im Stich.

Ehe ich weitergehe, sei es mir erlaubt, eine Anzahl Literaturbelege vor- zubringen.

Auch der alte Baron war auf das angenehmste überrascht, als er an Oswald einen aufmerksamen Zuhörer der langen Geschichte seiner kleinen Leiden fand. (F. Spielhagen: Problematische Naturen 1 410).

Wie überrascht war er deshalb, als ihm Fräulein Emilie heute mit der größten Freundlichkeit entgegenkam. (lbidem 490).

Indessen war er bereit, sich auf jeden Fall auch in diese Bedingung zu fügen. Wie angenehm war er deshalb überrascht, als ihm in seiner Cousine ein Wesen entgegentrat, schöner als... (lbiden 482).

Ich war überrascht, wie jung er wirkte, als ich sein Alter erfuhr. (Bonsels: Indienfahrt 221).

Wir waren bereits so dicht an der feindlichen Stellung von Jassini, daß der Feind überrascht war trotz seines ausgezeichneten Kundschafterdienstes. (Lettow- Vorbeck: Heia Safari! 59). N |

Wie erstaunt war er deshalb, als er bald darauf in der ihm Begegnenden Fräulein Helene erkannte. (Spielhagen: Problematische Naturen I #19).

Als ich aber den Mann genauer ansah und seine Stimme hörte, war ich aufs höchste erstaunt. (Wassermann: Renate Fuchs 418).

Er war verwundert, als Lisabetha ihn bat, das Licht hinter dem Schirm an- zuzünden..... (Moser: Anna Karenina-Übersetzung II 363).

Als Renate ıhn sah, war sıe bestürzt, daß sie den Weg hierher genommen... (Wassermann: Renate Fuchs 358).

Als Amselm sie fragte, ob sie ihn denn noch liebe, war sie nicht mehr bestürzt

darüber, sondern lehnte sich an seinen Arm.... (lbidem 185). Der Professor war im ersten Moment über meine Kühnheit verblüfft, aber gleich darauf... (Eckstein: Schulhumoresken).

„Wo hatten Sie denn damals den Revolver her?“ fragte Graumann. Erst fand sie keine Antwort, so verblüfft war sie. (Wassermann: Renate Fuchs 375).

Sie war es. Der Kalıf war von ihrer Schönheit so entzückt, daß er ausrief... (Hauff: Märchen).

Kleine Beiträge. 67

Annuschka war augenblicklich sehr erfreut über die Ankunft der Dame... (Moser: Anna Karenina-Übersetzung 11 240).

Lewin.... war erfreut, als er einen namhaften Musıikkenner im Gespräch mit Peszoff erblickte. (lbidem 327).

Dem Maler S. schlug sıe jetzt selbst vor, ihm für eın Bild zu sitzen. $. war be- glückt. (Wassermann: Renate Fuchs 332).

„Ich kann nicht Philosophie lehren.‘‘ „Das verstehe ich nun einmal nicht!“ Die Frau war empört. „Bist du nicht Professor?“ (Lucka: Eine Jungfrau 215).

Als er zurückkehrte, um seinen Platz wieder einzunehmen, fand er diesen beselzt und war sehr verdrossen. (Anekdote).

... Wasjenka, der zu Kıty herniedergebeugt, dieser mil seinem hübschen Lächeln etwas erzählte, und sie anblickte, die errötete und erregtwar. (Moser: Anna Karenina- Übersetzung II 216).

„Guten Abend, Fräulein Helene!“ Sie war schier etwas erschrocken über die unerwartete Anrede, erkannte ihn aber sogleich und antwortete... (Feldegg: Letzte Stunden 56).

Sie hatte sich gar nıcht getraut, es auszusprechen; nun es heraus war, war sie über sich selber entsetzt. (Viebig: Töchter der Hekuba 298).

Der Hund legte die Vorderpfoten auf dıe Kante, sodaß ıhm Renate den Kopf krauen konnte. Er war sogleich wie verhext, bellte... (Wassermann: Renate Fuchs 299).

Es kam eın gedruckter Brief von einer Inseraten-Zeitung, die zu annoncieren einlud. Meta tat es; aber ohne Erfolg. Sie war entmutigt. Vielleicht hatte sie nicht die richtige Art gewählt? (Lucka: Eine Jungfrau 77).

Da er in den nächsten Tagen auch zu uns Flieger schickte, waren wir un- angenehm enttäuscht, als das, was er auf uns herabsenkte, Sprengbomben waren. (Lettow-Vorbeck: Heia Safari! 141).

Die Leute fanden alles wunderschön, waren äußerst gerührt, wenn etwas Weiner- liches und Schmachtendes kam. (Wassermann: Renate Fuchs 454).

Die an diesen Beispielen veranschaulichte eigentümliche Erscheinung ist nicht selten. Es wurde oben erwähnt, daß das Eintreten eines Zustandes hier durch das Verb war in Verbindung mit einem Part. Perf. ausgedrückt wird. Daß wirklich ein Eintreten und nicht etwa ein Fortdauern vorliegt, läßt sich durch eine Untersuchung des Satzinhaltes oder Zusammenhanges leicht feststellen.

Will man einen Versuch machen, diese etwas rätselhafte Erscheinung zu erklären, wähle man etwa folgendes Beispiel: Als er das hörte, war er verwundert. Zuerst fragt man sich dann, ob das moderne Deutsch auch andere sprachliche Ausdrucksmittel besitzt, um den Inhalt des Hauptsatzes wiederzugeben. Ja, es besitzt viele. Man kann z. B. ebensogut und mit genau demselben Sinn sagen: ‚Als er das hörte, verwunderte er sich. Daraus geht zunächst hervor, daß war ver- wundert kein Passiv sein kann. Nun gibt es ja außer den zwei wohlbekannten Genera des Verbs, dem Aktiv und dem Passiv, ein drittes Verbalgenus: das Medium. Mit Recht wird hervorgehoben, daß das Medium ein Mittelglied zwischen dem Aktiv und dem Passiv bildet. Es wird oft folgendermaßen beschrieben: „Das Medium bezeichnet, daß die Handlung innerhalb des Subjekts bleibt oder auf dasselbe zurückwirkt. Das Medium läßt sich in der Regel durch ein Reflexiv- pronomen ausdrücken. Die reflexiven Verben der neueren Sprachen entsprechen dem Medium.“ Verwunderte sich ist demnach als reflexives Verb der Typus eines Mediums. Wir haben soeben gesehen, daß war verwundert in meinem Bei- spiel mit dem reflexiven Ausdruck verwunderte sich ganz gleichbedeutend ist. Daraus ziehe ich nun den Schluß, daß auch war verwundert ein Mediuın ist. Die Handlung geht hier nicht von einem außenstehenden Urheber oder Agens aus, sondern bleibt im Subjekt.

Was den Gebrauch der beiden Hilfsverben werden und sein betrifft, hat man

5*

68 Kleine Beiträge.

das Recht, den Satz aufzustellen: Nur sein kann in Verbindung mit einem Part. Perf. eine mediale Bedeutung bewirken. DaB werden sich zur Hervorbringung eines medialen Sinnes überhaupt nicht gebrauchen läßt, geht auch, wie mir scheint, aus Sätzen wie den folgenden hervor:

Das Haus füllt sich müt Gästen (schwed.: fylles).

Der Ertrag meiner Felder hat sich verdoppelt (schwed.: har fördubblats).

Der Himmel überzieht sich mit Wolken (schwed.: täckes).

Die Bäume schmücken sich mit Laub (schwed.: smyckas).

Man erkältet sich leicht (schwed.: blir förkyla).

Er verliebte sich in sie (schwed.: blev förälskad). x

Werden verbindet sich nie mit dem Part. Parf. eines reflexiven Verbs. Es kann nicht heißen: er wurde erkaältet, verliebt, entschlossen usw., wohl aber: er war erkältet, verliebt, entschlossen. Warum ? Weil werden zu medialen Zwecken unverwendbar ist.

Mehrere von den Partizipien, die ich in meiner Belegsamınlung angeführt habe und die in Verbindung mit sein einen medialen Sinn aufweisen, lassen sich unter Veränderung der Bedeutung auch mit werden verbinden. Das Part. Perf. überrascht z. B. tritt auch ınit werden auf, aber dann ist das Subjekt der Gegen- stand einer von außen, von einem Urheber, ausgehenden Handlung; mit anderen Worten: es liegt eine wirklich passive Funktion vor. Das ist nur bei denjenigen Verben möglich, die im Aktiv ein direktes Objekt haben können. Der passive Vorgang in: Ein Bauer wurde einst von einem heftigen Gewitter überrascht entspricht dem aktiven Vorgang in: Ein heftiges Gewitter überraschte einst einen Bauern.

Weitere Beispiele mit passivem Sinn:

Er wurde dabei überrascht, als er den Koffer mit einem Haken öffnen wollte. (Moren: Tyskt Konstruktionslexikon).

Wodurch wurdest du denn so verblüfft? (lbidem).

Durch diese Nachricht wurde er ganz entzückt. (lbidem).

Sie wurden hoch erfreut durch die Nachricht von deiner glücklichen Ankunft. (Ibidem).

Meines Erachtens muß die Erscheinung als er das hörte, war er überrascht so erklärt werden: Das Verb des Hauptsatzes ist seiner Bedeutung nach ein Medium. Von den beiden denkbaren Hillsverben ist soınit werden von vornherein ausgeschlossen, und nur sein kann in Betracht kommen, obwohl ein Eintreten und kein Fortdauern vorliegt.

Ich habe auch gezeigt, daß diese Erscheinung nicht an gewisse Partizipien gebunden ist, sondern daß sie von der medialen Bedeutung des Verbs abhängt. Man findet hier Ausdrücke verschiedener Arten von Gemütsbewegung:

Überraschung und Erstaunen: er war überrascht, erstaunt, verwundert, be- stürzt, verblüfft, verdutzt, betroffen.

sntzückung und Freude: er war entzückt, erfreut, beglückt, verhext.

Ärger, Zorn und Aufregung: er war empört, erbittert, entrüstet, erzürnt, ver- drossen, aufgeregt, erregt.

Schrecken: er war erschrocken, entsetzt.

Kummer, Verzweiflung und Rührung: er war bekümmert, betrübt, verzweifelt, gerührt. |

Verstimmung und Enttäuschung: er war entmutigt, verstimmt, enttäuscht.

Verwirrung: er war verwirrt.

Selbstverständlich erhebt meine Beispielsammlung keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Boras. Emil Läftman.

DB

Kleine Beiträge. 69

Frs. il ne faut pas que tu meures ‚du darfst nicht sterben’.

Tobler V. B.1? Nr.29 hat auf das Unlogische dieser Ausdrucksweise (statt ıl Jaut que tu ne meures pas) aufmerksam gemacht, auch altfrz. (Ne vialt pas g’en lo taigne a sage [Tristan, der für einen Narren gehalten werden will)), deutsche (ich will nicht, daß man mir dergleichen hinterbringe) und lat. Parallelen (nolo existimes) beigebracht. Die Erscheinung erklärt Tobler so: ‚es sind je zwei Ausdrücke zu einer Einheit verbunden, zu dieser tritt die Negation und, da innerhalb dieses Komplexes das Verbum finitum im Indikativ den Kern bildet, zu ihm; es ist die Zerlegung des Satzes in seine Bestandteile, die uns mehr und mehr zur Gewohn- heit geworden ist, und die Erwägung, an welcher Stelle denn streng genommen das richtige Element treffe, hier noch versäumt.“ Ähnlich meint Lerch, Histo- rische franz. Syntax 1 274, die Negation sei in diesem Fall ‚in den syntaktischen Schwerpunkt gerückt worden ... ., der Logik zuwider“; ‚il ne faut pas que tu meures heiße eigentlich nur ‘es ist nicht gerade erforderlich, daß du stirbst’“.

Ich habe schon Neuere Sprachen 26, 327 geschrieben, Tobler habe einen Idealtypus logischer Rede vor Augen, und was er behandle, seien „Abweichungen von diesem Typus‘. Im vorliegenden Fall hält Tobler ıl faut que tu ne meures pas für logischer. Aber ich brauche nur den Infinitiv einzusetzen (dabei aber immer noch den Satz an einen bestimmten Gesprächspartner gerichtet denken): tl ne aut pas mourir! “du darfst nicht sterben’, und man sieht, daß ıl ne faut pas nicht heißt “es ist nicht gerade erforderlich’, wie Lerch meint (konträrer Gegen- satz), sondern: “es ist nicht angängig’ (kontradiktorischer Gegensatz). Und das ist sehon so seit dem 14. Jhd. (Baudouin de Seboure: Or laıssies ma serour, plus n’en faut sermonner; Miracles de Notre-Dame: Michiel, il ne nous fault pas taire, zitiert von Kjellman, La construction de J’infinitif etc. S. 91), obwohl damals noch der alte (von faut “es fehlt” aus verständliche) Sinn von il ne faut pas, nämlich “il n’est pas besoin, il est inutile’, erhalten war, der heute untergegangen ist (Kjellman a. a. O.). Vom Augenblick an wo ıl faut + Inft. = frz. tu dois, engl. you must war, konnte il ne faut pas natürlich = frz. tu ne dois pas, engl. you must not "du darfst nicht’ werden!. Frz. ıl ne faut pas vous fächer heißt nieht mehr “es ist überflüssig . . ., sondern es ist nicht angängig, daß... ., Sie dürfen sich nicht ärgern’. Man könnte dann aus ul ne faut pas mourir, mere! “Mutter, du darfst nicht sterben’ einfach durch Auflösung des Infinitivs in einen que-Satz ıl ne faut pas que tu meures, mere! erhalten. Es ist also ıl ne faut pas que tu meures zumindest ebenso erklärungsbedürftig wie il ne faut pas "man darf nicht’. Das hat Kalepkyv schon bei seiner auf Tobler fußenden, aber eigentlich über ihn hinausgehenden Abhandlung ‚Von der Negation im Provenzalischen‘“ (Wissensch. Beilage z. Progr. d. 6. städt. höh. Bürgerschule Berlin, Ostern 1891) gesehen, indem er darauf hinweist, daß, während bei je n’espere pas und j’espere que non (dtsch. ich hoffe nicht ich hoffe, nicht) kontradiktorisches und konträres Gegenteil sprachlich geschieden werden, die ganz gleichgearteten Paare je ne pense pas und je pense que non (dtsch. ich denke nicht ich denke nicht) in ihrer Bedeutung zusammenfallen. Die meisten der Verba, bei denen das non (im Prov. wie im Frz.)

t Vgl. folgendes instruktive Beispiel aus Lanson, Einleitung zu Choix de lettres du XVII siecle S. I, in dem die Kursivschreibungen vom Autor selbst her- rühren: „Le grand danger, c’est que tout elasser mene a tout regler. 11 faut Ecrite naturellement, mais ıl ne faut pas 6erire negligemment. I faut de Vabardeon, de ’effusion; mais ıl ne faut pas de bavardage. 11 faut fuir la pretention et la decla- ınation, mais il ne faut pas etre sec ou plat. 11 faut dans les lettres d’a’faires de la coneision. I ne faut pas dans les lettres de sollieitation de bassesse ni d’orgueil. I faut dans les lettres de consolation de V’&motion sincere et simple. Que faut il! et que ne faut il pas! Quand je lis dans les essais de ce genre P’enumeration de tout ce qu’il faut et de tout ce qu’il ne faut pas mettre dans les lettres, je prends le ferme dessein de n’ecrire une lettre de ma vie‘.

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an logisch auffälliger Stelle stehe, hätten „die Eigentümlichkeit, daß ihr kontra- diktorisches und ihr konträres Gegenteil so gut wie ganz zusammenfallen, daß ein Unterschied zwischen ihnen zwar deın logisch Geschulten, über den Fall energisch nachsinnenden Sprachbetrachter erkennbar, aber für den die Sprache empfindungs- und instinktmäßig anwendenden Sprachangehörigen nicht vor- handen ist, oder daß doch wenigstens das eine von beiden das kontradiktorische in dem jedesmaligen Zusammenhange gänzlich außer Betracht tritt, der nega- tive Satz eben nur bei Annalıme einer konträren Verneinung einen Sinn gibt.“ Und Kalepky weist folgende 5 Gruppen von Verben nach, bei denen dieser Zusammenfall der gegenteiligen Bedeutungen eintritt: 1) meinen, 2) wollen, 3) sich ziemen, 4) den Schein erwecken, 5) sagen (im Futurum). Also z. B. „wenn es sich nicht ziemt, daß ich etwas tue, so ziemt es sich eben, daß ich es nicht tue‘, „wenn ich nicht Neigung habe etwas zu tun, so werde ich das, nur dann auszusprechen Anlaß nehmen, wenn ich gerade Unlust dazu verspüre, d.h. Neigung es nicht zu tun‘ usw. Allerdings fragt man sich nun, warum die Sprache gerade “es ziemt sich nicht daß” statt "es ziemt sich, daB nicht’, “ich will nicht daß’ statt “ich will, daß nicht’ sagt und nicht umgekehrt. Kalepky erinnert hier mit Recht daran (S. 28) an diejenigen Fälle, bei dei en die Voranstellung der Negation berechtigt ist und die, „wenn nun irgend einmal aus irgend welchen Ur- sachen und durch irgend welche Einflüsse, Neigung zu regelmäßiger, auch logisch nicht gerechtfertigter Vorausstellung der Negation sich entwickelt hatte“, in dieser Richtung verstärkend und unterstützend wirken konnten. Er erwähnt sehr mit Recht den altprov. Fall Zt an lur caras ben lavadas Que non paresca sıon lavadas “damit es nicht den Anschein habe’ (nicht etwa "damit es den Anschein habe, daB nicht’), allerdings müßte danach die Auffassung auch des Falles celut-cı ne fit pas semblant de comprendre durch Tobler berichtigt werden: das heißt nicht “tat als verstünde er nicht’, wie Tobler übersetzt, sondern “er ließ sich nichts an- merken davon, daß er verstehe” es ist also eine ganz andere Haltung be- schrieben, die des Sich-vor-etwas Inachtnehmenden, nicht die des Sich-bloßB- Verstellenden (daher Scvirne: U faut glisser sur bien des pensees etne pas faire semblant de les voır, zitiert von Plattner, Ausführl. Gramm. 4, 106).

Doch die Ausdrucksweise Kalepkys „wenn nun irgend einmal aus irgend welchen Umständen...“ zeigt, daß ihm die Erklärung der Negations-Vorweg- nahme von den Fällen logisch berechtigter Vorwegnahme aus doch nicht recht genügend scheint. Was er noch anläßlich von maıs tu ne dois pas etre a ton aıse avec cela "damit |mit diesem Einkommen] kannst du ja gar nicht behaglich leben’ (das logischerweise heißen solle: tu dois [es muß so sein daß... > "du kannst wohl... "| ne pas etre...) bemerkt, daß Sprecher und Hörer sich trotz des un- richtigen Gedankenausdrucks durch den Redezusammenhang verstehen, gilt schließlich für alle menschliche Unterredung und ließe sich dann als Pauschal- erklärung für alles Auffällige geltend machen. Mir scheint die Tatsache doch auffallend, daß bei der Negation die Vorausnahme zum llauptverb durchdringt, während das Personalpronomen säuberlich dorthin gestellt wird, wo es logischer- weise gehört, also: ıl ne faut pas le laısser faire, tu ne dois pas etre a ton aise, aber nicht ıl le faut laisser faıre, tu le dois supporter; zwar ıl ne va pas savoır, aber nicht mehr wie im Altfrz. il le va savoir (welche Ausdrucksweise nach E. Murets französischem Sprachgefühl ein „eleganter Archaisimus‘ ist, Rom. 49, 308)!. Auch beim Objektpronomen ist Ja ein Mißverständnis ausgeschlossen und doch tritt das Pronomen an seiner richtigen Stelle auf. Es gibt auch zu denken, daB der Typus ılle va savoir „elegant“ ist, also sprachlichen Elitekreisen angehört, dagegen, wie Platiner vermerkt, der Typus il ne faut pas que tu meures, volkstümlich: wenn wirklich das finite Verb bloß als Kern des Komplexes attraktive Kraft in der Volkssprache hätte, würde man auch ıl le va sacoir vordringen sehen.

Toblers Bemerkung „so ganz verkehrt und sinnlos pflegt der sprechende

I Belere bei Eringa, La proposition infinitive S. 121.

Kleine Beiträge. 71

Mensch nicht zu verfahren‘ läßt es so erscheinen, als ob etwelche Logik nur mit Mühe an unserer Wendung konstatiert werden könnte. In Wirklichkeit ist wohl ıl ne faut pas que tu meures affektvoller zwar, aber nicht unlogi- scher als il faut que tu ne meures pas, wie dtsch. ich will nicht, daß man mir der- gleichen hinterbringe affektvoller, aber nicht unlogischer ist als ich wıll, daß man mir dergleichen nicht hinterbringe, dtsch. ıch hoffe nicht, daß du heute abends ausgehst per- sönlich betonter, nachdrucksvoller, drohender, aber nicht unlogischer ist als ich hojfe, daß du heute abend nicht ausgehst. Der Mensch, der ein ‚ich will nicht‘ „du darfst nicht‘ ausspricht, wehrt, verteidigt sich gegen etwas, er gibt einer impul- siven Abneigung Ausdruck. Der Mensch, der ein ‚ich will‘, „du darfst‘ sagt, entwirft ein positives, fast möchte ich sagen: ausgereiftes Programm. Es liegt in der Natur des Menschen, daß er eher verneint als selber besser macht, daß er von vorn herein negativ gestimmt ist (diese Von-vornherein-Stimmung wird durch das bekannte parlamentarische Witzwort illustriert: „Ich kenne die Absichten der Regierung nicht, aber ich mißbillige sie“), daß er daher auch eher "ich will nicht’ als “ich will’ sagen wird!, daß eine Abwehr gegen Bedrohung temperament- voller sein muß als ein positiver Plan. (Unser ganzes Leben ist eine Defensive’, «daher ital. campare “Krieg führen’ > ‘leben’, bauernfrz. il se defend “er lebt’). Der Aftektgewinn ist es also, der den Sprecher eher zu einem „ieh will nieht daß‘, ıl ne faut pas que tu meures als zu einem ‚ich will laß nicht‘, 1! faut que tu ne meures pas treibt. Letztere Ausdrucksweise kommt mir überhaupt im Frz. ziemlich ungebräuchlich vor: in dem bei Tobler zitierten Satz aus Bourget un peintre ne doit penser que le pinceau a la maın. Je crois meme qwWil doit ne pas penser du tout könnte im ersten Fall gar nicht anders gesagt werden (un peintre doit ne penser que klingt mir ungewöhnlich), im zweiten Fall legt der Autor ausdrücklich auf das „Nichtdenken“ Wert, er möchte uns grade drauf die Nase stoßen so kommt es wohl eher ausnahmsweise zu ne pas penser. Auch die aprov. Belege Kalepkys für die angeblich logische Stellung der Negation sind nicht recht ein- leuchtend: Donna ... ben m’es vejaire Que no.m temes ni-m presas gaire wie sollte das no zu dem ben passen ("wohl scheint mir, daß du nicht’; nicht wohl scheint mir... hätte einen ganz andern Sinn); E pogra esser que non agra [pietat] “es könnte sein, daß sie kein Mitleid haben könnte’ (e non pogra esser que agra hieße "es wäre unmöglich, daß... .) usw.

Das il ne faut pas que tu meures ist also keineswegs unlogisch. Man braucht nur deutsch zu übersetzen ‚‚es darf nicht der Fall eintreten‘‘, ‚‚es darf nicht dazu kommen‘, „es darf nicht sein“ u. dgl., und alles ist in schönster Ordnung. Das ıl ne faut pas que ist einfach das kontradiktorische Gegenteil von ıl faut que (vgl. faut-il qu’il soit bete! "muß es sein, daß... .””). Man sieht das Affektvolle der Ausdrucksweise an dem George-Sand-Beispiel bei Tobler: tu te lances en aveugle au muilieu des abimes. Je ne veuxr pas Üy laisser tomber, moi! tu es le seul etre que J’aie estime depuis dix ans. Il ne faut pas que tu perisses, non, ıl ne le faut pas "nein, nein, es darf nicht sein!” Kein Zufall, daß hier /alloır steht, das (im (segensatz zu devoir) die Naturnotwendigkeit ausdrückende Verb (vgl. R. Rübel,

i Man beachte, daß im Altfrz. auch re- ans Verb tritt, auch dann wenn es beim abhängigen Inf. ‚fällig‘ war (mes feire ne le redeüssent, Risop, Arch. f. neuere Spr. 95, 316), auch par- ans Auxiliar tritt, wenn es selbst Präfix des zusammen- zesetzten Verbs ist: nos paras (== par as) toz esperduz (P. Falk, Studier i mod. sprakvetenskap IX 16). Das finite Verb ist eine Art Aktivitäts- und Kraft- zentrum, das alles, was die Energetik steigert (intensivierende Präfixe, Negation), an sich zieht. In diesem Sinn kann man mit Tobler vom ‘Kern’ des Komplexes spiechen. Auch den von Tobler Y. B. 2 \r.5 behandelten Fall dl a du venir “er muß gekommen sein, er ist wahrscheinlich gekommen’ (statt ıl doit etre venu) möchte ich hier anreihen. Die Rückung der Tempusbezeichnung in den ‚syn- taktischen Schwerpunkt‘ (Lerch) hat eine Verlebendierung zur Folge.

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Über den Gebrauch von debere und den Ausdruck der Notwendigkeit im Roman., Straßburg 1911, S. 26f.).

Daß die Negation möglichst weit nach vorn im Satz drängt, ist eine mit jener Affektgewalt des Negativen leicht zu vereinende Erscheinung: Jespersen, “Negation in English and other languages” (1917, S. 50ff.), der Parallelen! für das frz. ıl ne faut pas que tu meures bringt (engl. Do not iet us... be too pro- digal of our pity statt let us not be, I do’nt think he has come, (in Irland) ıt ıs not my wish Ihat you should go to America at all, russ. ne veleno dtogo delat' ‘order is not given to do this’ statt “order is given not to do this’, gr. ob gnul ['sage daß nich t’] roüro xarag £yxeıv, lat. nego hoc bene se habere‘ich sage daß... nicht’, dän. saa vıl jeg aldrıg anske, at du maa blive gift usw.), scheint derlei Stellung der Negation aus dem ‚nexalen‘ Gebrauch zu erklären: sie stünde danach beim Hauptverb, weil sie den ganzen Nexus (“the combination of two ideas” S. 42), nicht eine ein- zelne Vorstellung verneint; S. 44 heißt es: “There is a general tendency to use nexal negation wherever it is possible; and as the (finite) verb is the linguistic bearer of a nexus, at any rate in all complete sentences, we therefore always find a strong tendency to attract the negative to tlıe verb’’ also genau die Tobler- sche Vorstellung von ‘Kern’ des ‘Komplexes’, und Toblers Zurückführung des sprachlichen Ausdrucks mehr auf Verstandes- -als Gefühlsmotive. Diese liegen jedoch gerade in unserem Falle vor und Jespersen hat sie auch aın Anfang seiner gedankenreichen Abhandlung nicht genügend deutlich erwähnt in dem Kapitel “General Tendencies’” 8.5: “...then is a natural tendency, also for the sake of clearness |[?] to place the negative first, or at any rate-as soon as possible... At the beginning of the sentence it is found comparatively often in the early stages of some languages, thus ou in Homer... Readers of lcelandie sagas will similarly have noticed the numerous instances of eigi and ekki at the beginning ofsentences, especially dialogues. In later stages this tendeney, which to use seems to indicate a strong spirit of contradiction, is counterbalanced in various ways, thus very effec- tively by the habit of placing the subject of a sentence first. But it is still strong in the case of prohibitions, where it is important to make the hearer realize as soon as possible that it is not a permission that is imparted’ (dan. ıkke spise der!, dtsch. nıcht hinauslehnen!, lat. noli putare). Andere Belege noch bei Wackernagel, Vorlesungen über Syntax, 8. 259 ff., der auch 8. 262f. dem ıl ne faut pas que tu meures S.262ff. noch weitere lateinische (@. Metellus an Cicero: tetam mobili in me meosque esse anımonon sperabam) und griechische Parallelen (Ilias: od xpn ravvhxıov eiderv BouAnpögov Audgx) zugesellt.e Wenn wir die Klarheitsmotive noch etwas inehr mit Gefühlsinotiven kombinieren, so haben wir in den Sätzen Jespersens alle Elemente in der Hand, die‘ zur Erklärung der uns beschäftigenden Erschei- nung nötig sind: in allen zitierten Fällen handelt es sich um Verba, die eine persön- liche Stellungnahme ausdrücken: wollen, wünschen, hoffen, dürfen (du darfst = ich will, daB du . . .), sagen, denken usw. (vgl. Kalepkys Zusammenstellung). Das Affektvolle der Redeweise sieht man aus dem Beispiele, das A. Franz „Zur Syntax der erregten [sic!] Rede in lothringischen Mundarten" 8.83 anführt tich französiere!): je ne veux plus que vous venez chez nous man kann sich ja -

I Ital. und span. Parallelen bei Rübel 8. A4ff., au h bei Weigert, Unter- suchungen z. span. Syntax 8.158. Das sp. no por eso "deshalb nicht’ läßt sich mit, dem griech. satzeröffnenden od (yap) vergleichen. Ich nehme auch an, daß vieles was Ebeling, Probleme der rom. Syntax Lin dem Artikel (Nr. 8) « non la sta cosı “das ist nicht der Fall’ bringt, hieher gehört: Ebeling meint. die Stellung non la statt la non bei Subjektspronomen durch Verallgemeinerung von non la (mit Objektpron.) erklären zu können aber man [rart sich, warum dann die Ver- kürzung von it. ella zu dial. la vorgenommen worden ist (viel. ven. no el vede “er sieht nicht’): doch offenbar umgekehrt wegen der Hochbetontheit und An- fangsstellung des non: gleichsam "keineswegs ist es so’.

Bücherschau. 73

eine konkurrierend-kontaminierende Satzgestaltung denken je ne veux plus vous voir chez nous, die zusammen mit je veux que vous ne veniez plus chez nous obiges Resultat ergeben hätte, aber diese konkurrierende Wendung selbst staınmt daher, daß das je ne veux plus sich “eigenwillig’ an die Spitze des Satzes drängt.

Im Einklang mit dieser Affektgewalt der Negation steht die schon seit G. Sand belegbare volkssprachliche Entwicklung einer negativen Finalpartikel pour pas que “damit nicht’: offre du cafe pour pas qu’elle s’en alle (Bauche,